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Das Endziel der Frauenbewegung

vom 12. bis 19. Juni 1904 — Internationalen Frauenkongreß, Berlin, Deutschland

 

Man hat in den Kreisen der Frauenbewegung selbst in den letzten Jahren öfter die Ansicht ausgesprochen, daß in der allgemeinen theoretischen Erörterung der Frauenfrage nun genug geschehen sei, und daß es jetzt nur darauf ankommen müsse, ihre Spezialgebiete mit Sachkunde und Energie zu bearbeiten, im einzelnen zu verwirklichen, was man im großen erreichen will. Jn dieser Ansicht liegt zweifellos ein Stück Wahrheit. Aber sie hat auch ihr Bedenkliches. Je mehr die Arbeit der Frauenbewegung sich spezialisiert, je mehr ihre Trägerinnen sich auf Einzelgebiete verteilen, um so größer ist die Gefahr, daß sie die Fühlung unter einander verlieren, und daß das, was schließlich im einzelnen geleistet wird, doch dem Ganzen nicht mehr dient. Darum, meine ich, ist es immer wieder notwendig, die breite Fülle unserer Einzelarbeit durch die Jdeen zusammenzufassen, die in der Frauenbewegung einen einheitlichen geschichtlichen Werdeprozeß erkennen lassen. Und ein Augenblick, wie der heutige, da das imposante Bild dieser Leistungen in buntem Wechsel an uns vorübergezogen ist, legt es uns besonders nahe, ehe wir uns trennen, noch einmal still zu stehen und zu fragen: Wohin führt all dies Schaffen und Ringen, was ist das Endziel der Frauenbewegung?

Die besonderen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, unter denen sich die Frauenbewegung bei uns und in manchen anderen Ländern entwickelt hat, verleiten heute dazu, sie lediglich auf wirtschaftliche Ursachen zurückzuführen und sie nur im Zusammenhang mit diesen Ursachen zu erfassen. Jm Hinblick auf das Endziel der Frauenbewegung würde sich aus dieser rein materialistischen Betrachtung der Schluß ergeben — ein Schluß, der in der Tat vielfach gezogen wird —, daß mit der wirtschaftlichen Frauennot, gleichviel, wie sie beseitigt wird, auch Frauenbewegung und Frauenfrage aus der Welt geschafft wären, eine Auffassung, aus der heraus man sogar das drastische Mittel der Zwangsheiraten plausibel zu machen gesucht hat.

Diese Auffassung schaltet die geistigen Ursachen der Bewegung einfach aus. Wie sehr aber diese Ursachen mitgesprochen haben, weiß jeder, der die Entwicklung der Frauenbewegung aus dem Gedankenkreis ihrer ersten Vertreter und Vertreterinnen bis in die Gegenwart hinein verfolgt hat. Läßt sich doch überdies geschichtlich leicht nachweisen, daß ohne diese Ursachen ans der bloßen wirtschaftlichen Frauennot keine Frauenbewegung wird.

In seiner Studie über die Frauenfrage im Mittelalter weist einer unserer bedeutendsten Nationalökonomen, Karl Bücher, nach, daß das deutsche Mittelalter unter einer wirtschaftlichen Frauennot litt, die viel weitgreifender und trostloser gewesen zu sein scheint, als die des 19. Jahrhunderts. Jn den Städten, von denen statistische Angaben erhalten sind, zählte man durchschnittlich 1200 Frauen auf 1000 Männer. Die vielen Unversorgten, Überflüssigen aber fanden schon damals nur zum kleinen Teil in der Hauswirtschaft ein Unterkommen. Die Gewerbe sträubten sich gegen die weibliche Arbeit. Das Kloster wurde doch nur von verhältnismäßig wenigen Frauen aufgesucht, und dasselbe gilt von den Beghinenhäusern, einer Art weiblicher Hausgenossenschaft, zu der sich die notleidenden und heimatlosen Frauen damals zusammenschlossen. So finden wir denn Tausende von Frauen als „Fahrende“ auf den Landstraßen oder als die unglücklichen Jnsassen der städtischen Frauenhäuser. Was sie da hineintrieb, dafür haben wir ein ergreifendes Zeugnis in der Geschichte jenes Predigers Rudolf, der im 13. Jahrhundert sein Leben der Rettungsarbeit unter diesen Unglücklichen widmete. Es wird uns berichtet, daß sie ihm antworteten: „Herr, wir sind arm und schwach, wir können uns auf keine andere Weise ernähren; gebt uns Wasser und Brot, bann wollen wir euch gern folgen“.

Also eine Frauennot mit all jenen furchtbaren Folgen für Familie und öffentliche Sittlichkeit — und doch keine Frauenbewegung. Es genügt zur Erklärung dieser Tatsache nicht, auf die Atomisierung der Frauen unter den alten Formen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens hinzuweisen, auf die Schwierigkeit, miteinander Fühlung zu gewinnen, das Einzelschicksal als ein Massenschicksal kennen zu lernen, die allgemeinen Ursachen dafür zu suchen und ihnen gemeinsam entgegenzuarbeiten. Wo es sich um die wirtschaftliche Notwehr handelt, haben wir ja solche Gemeinschaftsbildungen; aber niemals geht das, was diese bezwecken, wofür sie unter Umständen kämpfen, über die wirtschaftliche Notwehr hinaus, niemals erfassen die Frauen ihre Lage unter dem Gesichtspunkt einer prinzipiellen Kritik an der Verteilung von  Existenzmöglichkeiten und Rechten unter die Geschlechter, einer Kritik, die notwendig über das wirtschaftliche Gebiet hinaus auf andere Lebensverhältnisse hinübergegriffen hätte. Es fehlt das geistige Moment, das diese rein wirtschaftlichen Kämpfe erst zur Frauenbewegung im modernen Sinn gemacht hätte.

Und auch das ändert an dieser Tatsache nichts, daß auch in früheren Jahrhunderten hier und da einmal eine starke weibliche Jndividualität den für ihr Geschlecht gültigen Normen ihr instinktives Selbstbewußtsein entgegensetzt. Jch erinnere nur an die hübsche Hochzeitsszene in dem alten Spielmannsroman von Knodlieb. Der Bräutigam reicht der Braut auf der Schwertspitze den Ring und spricht dazu: „Wie der Ring den Finger von allen Seiten umfaßt, so verpflichte ich dich zu fester und unwandelbarer Treue, die du mir bewahren mußt oder das Leben lassen.“ Die Braut aber antwortete: „Was dem einen recht ist, ist dem andern billig. Warum soll ich dir bessere Treue bewahren als du mir? Adam hatte nur eine Eva, so soll der Mann nur ein Weib haben. Du läßt dich mit Buhlerinnen ein und willst doch nicht, daß ich eine sei. Jch werde mich hüten, auf diese Bedingung einzugehen. Geh’, leb’ wohl und sei so liederlich, wie du willst, aber ohne mich.“ Da mußte er denn wohl nachgeben und sagte: „Wenn ich es jemals wieder tue, so will ich die Güter verlieren, die ich dir geben werde, und du sollst Macht haben, mich zu enthaupten.“ — „Unter dieser Bedingung“, antwortete sie, „wollen wir uns offen und ehrlich verbinden.“

Ist es nicht, als hörten wir Svava in Björnsons „Handschuh“? Und doch ist hier eine weite Kluft. Denn aus der Frau der Spielmannsdichtung spricht nicht das Geschlecht, sondern die einzelne Jndividualität, die im Bewußtsein ihres besonderen Wertes ihre eigenen Bedingungen stellt. Es wäre ungeschichtlich gedacht, wenn man in ihrem kecken und klugen Vorbeugen gegen ihr wohlbekannte Gefahren eine bewußte Kritik an den Einrichtungen sehen wollte, die die Lage ihres Geschlechtes bestimmten. Zu einer solchen Kritik fehlen, wie schon gesagt, dem Mittelalter die geistigen Vorbedingungen.

Worin bestehen diese geistigen Vorbedingungen, und wie kam es dazu, daß sie auf die Auffassung der Frauenfrage einwirkten?

Das kann uns erst klar werden, wenn wir die Frauenbewegung im Zusammenhang der menschlichen Geistesgeschichte betrachten, wenn wir festzustellen suchen, wie die Frauenfrage sich hineinschob in die Reihe der großen Probleme, die das menschliche Denken im Lauf seiner notwendigen Entwicklung nacheinander aufgeworfen und zu bewältigen gesucht hat.

Bei dem ersten Schritt von dem naiven, dumpfen Hinnehmen der gegebenen Verhältnisse und Lebensumstände zu einem kritischen Erfassen der Wirklichkeit wandte sich die Reflexion zunächst den weitesten, allgemeinsten Fragen zu: den letzten Ursachen der Erscheinungswelt, dem Zusammenhang der kosmischen Vorgänge.

Der zweite Schritt führte dann dazu, die historisch gewordenen Formen des Gemeinschaftslebens, die ihrer Natur nach so viel komplizierter, regelloser und willkürlicher zu sein schienen, durch das Denken ordnenden Prinzipien zu unterwerfen. Vor diesem Schritt, den Plato für die Antike getan hat, bleibt der Mensch des Mittelalters stehen. Er vermag noch nicht den Gegensatz von Jndividuum und Gesellschaft zu erfassen, er gelangt noch nicht zu einem Standpunkt, von dem aus die Frage nach der Vernunftgemäßheit der gesellschaftlichen Einrichtungen gestellt werden kann, die Frage: leistet die Gesellschaft in ihrer augenblicklichen Verfassung dem einzelnen, was er beanspruchen darf, und wie müßte sie beschaffen sein, damit dies geleistet wird? Erst die Renaissance hat diese Frage von neuem — für die germanischen Völker zum erstenmal — gestellt, und die französische Revolution ist der große Protest des zur Kritik erwachten bürgerlichen Bewußtseins gegen staatliche Einrichtungen, die ihren Wert vor dieser Kritik nicht zu erweisen vermochten.

Und nun erst konnte ein dritter Schritt geschehen. Das denkende Bewußtsein, das erst das Verhältnis des Menschen zum Kosmos, dann zu dem engeren Kreis der ihn umgebenden staatlichen Ordnung betrachtet hatte, wandte sich nun den innersten Beziehungen zu, in denen der Mensch sich fand: dem Verhältnis der Geschlechter innerhalb der sozialen Ordnung.

Es ist natürlich, daß dieses erst auf einer späten Entwicklungsstufe des menschlichen Denkens zum Problem werden konnte. Hier schien durch die Natur selbst alles so durchaus bestimmt. Das Jnstinktleben, das persönliche Empfinden hatte an diesen ursprünglichsten sozialen Beziehungen einen so entscheidenden Anteil, daß sie sich als Problem des Denkens zunächst gar nicht darboten. Und vor allem, das praktische Jnteresse, das der stärkste Antrieb zur Kritik der staatlichen Ordnung gewesen war, das Gefühl der Unbefriedigung, sprach bei dem, der bis dahin allein den Träger des denkenden Bewußtseins darstellte, beim Mann nicht mit. Er empfand sein Verhältnis zur Frau als so durchaus befriedigend, daß ihm nicht im entferntesten der Gedanke aufsteigen konnte, auch hier sei ein Problem, auch hier etwas, was einer Kritik nach den neu gewonnenen sozialethischen Maßstäben nicht stand hielt. Und so stellt denn auch Rousseau, als er seinen Staatsbau nach Vernunftprinzipien aufführt, das Verhältnis der Geschlechter einfach unter die Formel: La femme est faite spécialement pour plaire á l’homme. Daß diese Formel mit den Grundlagen seiner Gesellschaftstheorie in klaffendem Widerspruch steht, übersieht er. Mit dem Jnstinkt des Besitzenden hält er seine Prinzipien von diesem Gebiet fern. Nur die Frauen selbst konnten sie auf ihre eigene Stellung in der Gesellschaft anwenden. Denn nur für sie bedeutete das herrschende System, wie für den tiers état im Staat, Druck und Einengung. Von ihrer Seite mußte die Kritik einsetzen. Mary Wolstonecraft tat diesen Schritt mit den Waffen des Jean Jacques selbst. Aus seinen Voraussetzungen zog sie die Schlüsse für ihr eigenes Geschlecht.

Fassen wir nun zusammen, was diese Betrachtungen klar gemacht haben: Jm Mittelalter haben wir Frauenfrage und Frauennot, aber keine Frauenbewegung, weil der geistige Unterbau dafür noch nicht vorhanden ist, weil dem menschlichen Denken auf seinem Wege von außen nach innen die gesellschaftliche Stellung der Geschlechter zu einander noch nicht zum Problem geworden war. Wir haben eine Frauenbewegung im 19. Jahrhundert, weil diese Vorbedingungen jetzt erfüllt sind, weil aus der vorangegangenen Kritik der Gesellschaft die Maßstäbe für die moderne Gestaltung der Frauenfrage gewonnen sind. In der Formulierung des 19. Jahrhunderts heißt nun die Frauenfrage nicht: wie sind diese oder jene Gruppen von Frauen, die unsere wirtschaftlichen Verhältnisse um ihre Existenzmöglichkeiten gebracht haben, zu versorgen? sondern: wie ist die Lage der Frau in ihren wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen in Einklang zu bringen mit dem Selbstbewußtsein der vollgiltigen sittlichen Persönlichkeit, das den eigentlichen Jnhalt der Menschenwürde ausmacht?

Die Frauen der Revolution, wie Olympe de Gouges und Mary Wolstonecraft, die in der Sprache der Zeit die „Menschenrechte“ für die Frau forderten, dachten sich die Erfüllung ihrer Forderung leicht. Brauchte doch der Mann nur die Rechte, die er selbst errang, auch der Frau zu gewähren. Was dieser begrifflich so leicht aufzustellenden Lösung tatsächlich im Wege stand, war jenen Idealistinnen nicht klar. Es lag in dem, was Burke damals der aus die Menschenrechte gerichteten Geistesbewegung entgegenhielt: daß die gesellschaftliche Ordnung nicht allein auf die Vernunft gegründet werden müsse, sondern auf die menschliche Natur, von der die Vernunft nur ein sehr kleiner Teil sei. Und wenn irgend eine soziale Reform mit der Natur des Menschen zu rechnen hatte, so war es diese, die in die persönlichsten, mit dem Jnstinktleben am engsten verbundenen menschlichen Beziehungen eingreifen mußte. Und eben hier lagen die stärksten widerstrebenden Mächte. Gewiß war der Gedanke sehr plausibel, daß der Mann die Frau zur gleichberechtigten Bürgerin machen könne, wenn er nur wolle. Aber es gehörte mehr geschichtlicher Sinn dazu, als jene Zeit besaß, um zu begreifen, daß er es noch gar nicht wollen konnte.
Jahrhunderte hindurch hatte die geistige Persönlichkeit der Frauimmer von einzelnen feinen und hochstehenden Naturen abgesehen für den Mann keine entscheidende Rolle gespielt. Sein persönliches Verhältnis zu ihr erhielt seine Färbung durchaus durch die Vor herrschaft des Jnstinktlebens. Dem geistlich gerichteten Asketen erschien das Weib als das sündige Gefäß; dem, der sich unbefangen zu seiner Menschlichkeit bekannte, immer doch vor allem als eschlechtswesen, dessen Bestimmung in ihm ihren Mittelpunkt hatte. Auf der einen Seite fragte man, ob sie eine Seele haben könne, auf der andern Seite brachte der Sprichwörterschatz der Völker in unendlichen Wendungen lange Haare und kurzen Verstand zusammen. Wie sollte man dazu kommen, der Frau plötzlich eine soziale Stellung zu geben, als sei ihre geistige Persönlichkeit dem Manne in jeder Hinsicht ebenbürtig? So mächtig sich der voraussetzungslose Nationalismus gezeigt hatte, als er die Jahrhunderte alten feudalen Herrschafts — und Dienstverhältnisse in Trümmer schlug — hier konnte ihm kein rascher Sieg zufallen. Er konnte nicht mehr als einen Umbildungsprozeß einleiten, der dieses letzte Stück Jnstinktleben allmählich vergeistigte.

Und so beginnt der Kampf, vielleicht der tiefgreifendste, den die Menschheit gekannt hat. Es gibt kaum ein Lebensgebiet, das er in seinem Verlauf nicht berührt hätte.

Zunächst waren es die wirtschaftlichen Umwälzungen, die diesem Kampf einen breiten Schauplatz gaben. Sie schufen wieder eine Frauennot, die wirtschaftliche Frauenfrage des 19. Jahrhunderts. Und damit wurde der Kampf der Geister in den Lüften übertäubt durch den rasch entbrennenden Konkurrenzkampf auf heiß umstrittener Erde, in dem alle jene ideellen Ansprüche sich zu sehr realen Forderungen verdichten mußten.

Es war selbstverständlich, daß sich hier, wo es um das nackte Dasein ging, die Gegensätze ungeheuer verschärften. Massen von Frauen waren plötzlich, auch ohne ihren Willen, in das öffentliche Leben hinausgedrängt, sie hatten den wirtschaftlichen Mächten ihr tägliches Brot abzuringen wie der Mann. Das Leben legte ihnen seine Lasten und Pflichten auf, ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht; wollten sie nicht unterliegen, so mußten sie die gleichen Mittel haben, diese Lasten zu bewältigen: Bildungs- und Berufsfreiheit, und schließlich die öffentlichen Rechte, die im modernen Staatsleben mehr und mehr auch das Mittel wirtschaftlicher Selbstbehauptung wurden. So prägte das moderne wirtschaftliche Leben die allgemeinen Prinzipien, die seit Olympe de Gouges und Mary Wolstonecraft aufgestellt waren, in einzelne praktische Forderungen um, und teilte ihnen etwas von der mechanischen Wucht realer wirtschaftlicher Notwendigkeiten mit.

Es war gewiß nicht zu verwundern, daß der Mann gewöhnlichen Schlages, der diesen Ansprüchen der Frauen aus seinem eigenen, durch die Vorgänge im Wirtschaftsleben selbst arg bedrängten und erschütterten Berufsgebiet begegnete, nur an die Wahrung seines Besitzstandes dachte und sich zu allen Mitteln wirtschaftlicher Notwehr berechtigt glaubte. Aber es mußte aufs tiefste erbittern, wenn die Frauen auch da nur auf Geringschätzung und ironische Abwehr stießen, wo ein objektives, über persönlichen Jnteressen stehendes Verständnis für ihre Lage zu erwarten gewesen wäre. Auch die Wissenschaft sprach von der „Weiberemanzipation“, die aus dem „Schlamm der Überbildung“ ausgestiegen sei, und schlug mit dem Hinweis auf den bekannten Fehlbestand von 8 Lot Hirngewicht vor den Frauen die Tür zu.

Diese zuerst unüberwindliche Opposition im Zusammenhang mit den so schwierigen und vieldeutigen wirtschaftlichen Verhältnissen ließ auch das eigentliche Wesen der Frauenbewegung nicht immer rein hervortreten. Übersehen wir sie in ihren ersten Anfängen, so erscheint sie uns selbst noch vielfach ihres Weges nicht sicher. Jhr Programm entwickelt sich im Kampf, und es leidet an den Einseitigkeiten eines Kampfprogramms. Man erfaßte wirtschaftlich mechanische Vorgänge, wie sie z. B. die Regelung der Frauenlöhne bestimmten, als persönliche Ungerechtigkeiten, man täuschte sich dilettantisch über das Gewicht männlicher Kulturleistungen; man übersah, von einzelnen starken Jndividualitäten auf die Allgemeinheit schließend, wie weit der Frau in ihrer Bestimmtheit durch die Mutterschaft für die Erfüllung voller männlicher Berufssphären Schranken gesetzt waren, und hielt an dem Dogma der vollen Berufsfreiheit auch gegenüber den dringendsten Forderungen des Arbeiterinnenschutzes fest. Man setzte überhaupt die Männerleistung als absoluten Maßstab und übersah, daß das stärkste Argument für die Ansprüche der Frauen die Eigenart ihrer Leistungen ist.

Nicht minder scharfe Formen nahm der Kampf an, als er aus dem engeren Kreis der einzelnen Berufsgebiete auf den weiteren des Staatslebens hinaustrat. Die Frauen sahen und sehen alle Tage, wie einzig der seine Ansprüche durchsetzt, der die Hand auf die Klinke der Gesetzgebung zu legen vermag, und so wird auch von der wirtschaftlichen Seite her eine Forderung bekräftigt, die in Ländern mit ausgeprägt demokratischem Bewußtsein schon im Anfang der Bewegung praktisch verfolgt wurde.

Der wirtschaftliche und der sozialpolitische Jnhalt ihres Programms machte die Frauenbewegung zur Massenbewegung, nötigte sie, sich Schlagworte zu prägen, Organisationen zu schaffen, und sammelte eine Gefolgschaft von Tausenden um ihre Fahnen. Es liegt etwas Jmposantes in der unbeirrten Überzeugtheit, die sich in eindrucksvollen Massenkundgebungen gegen Jahrtausende alte rechtliche und sittliche Begriffe wendet und mit der Zuversicht jenes alten „Gott will es!“ der Kreuzfahrer das Land der Zukunft sucht. Daß dabei zugleich eine gewisse Senkung des Niveaus eintreten muß, daß das Gold in kleine gangbare Münzen umgeprägt wurde und nicht eben die feinsten Naturen zuweilen im Vordergrund standen, das ist eine Erscheinung, welche die Frauenbewegung mit jeder anderen Massenbewegung teilt.
An diesem Punkt aber hat sich eine Reaktion entwickelt, die in dem letzten Jahrzehnt das vielgestaltige Gewirr des Kampfes mit neuen Tendenzen durchkreuzt hat. Es ist jener ästhetische Jndividualismus, wie ihn Ellen Key in die Frauenbewegung eingeführt hat. So lange diese Jndividualistinnen dem großen sozialen Kampf gewissermaßen vom Bagagewagen aus zusehen und über die Häßlichkeiten darin etwas preziös die Nase rümpfen, haben sie für die Frauenbewegung wenig zu bedeuten. Sie sollten ihr unbefriedigtes ästhetisches Empfinden, das sich von der „Frauensache“ verletzt abwendet, mit dem Wort Hölderlins zum Schweigen bringen: Wie kann man die Schönheit seiner Haltung wahren, wenn man im Gedränge steht?

Aber diese Richtung, die auch der Frauenbewegung mit den Forderungen der „Lebenskunst“, des schönen Egoismus, gegenübertritt, droht doch, den Mittelpunkt ihres ganzen Programms zu verschieben, indem sie das individualistische Prinzip da an die Stelle des sozialen setzt, wo es am verhängnisvollsten werden muß, auf dem Gebiet der sexuellen Sittlichkeit. Denn geht die Frauenbewegung ihrem Ursprung und ihrem ganzen Wesen nach darauf hinaus, das Verhältnis der Geschlechter durch die Betonung der geistigen Persönlichkeit der Frau neuen sittlichen Anschauungen zu unterwerfen, so muß sie auf dieses Gebiet schließlich ihren schärfsten Nachdruck legen, wie sie hier dem schärfsten Widerstand begegnen muß. Es ist eine Lebensfrage für sie, ob hier an Stelle der Rücksicht auf die Gesamtheit ein individuelles Sichausleben eingesetzt wird, ob man hier über dem zum modernen Schlagwort gewordenen „Schrei nach dem Kinde“ das Kind selbst und seine Entwicklungsmöglichkeiten vergißt. Und eben darum muß die Frauenbewegung auch innerhalb ihrer eigenen Reihen den Kampf aufnehmen gegen alle, die das Vorrecht des Jnstinkts, das sie beim Manne bekämpft, bei der Frau wieder proklamieren wollen.

So wogt der Kampf hin und her, auf den verschiedensten Gebieten, so drängt die Bewegung vorwärts, nicht immer den inneren Gesetzen ihres Fortschrittes folgend, nicht immer die Sterne im Auge, die ihr die Richtung geben müssen, auch darin keine Ausnahme von den allgemeinen menschlichen Gesetzen. Auch von diesem Kampf gilt das Wort des Dichters:

Wer in der Sonne kämpft, ein Sohn der Erde,
Und feurig geißelt das Gespann der Pferde,
Wer brünstig ringt nach eines Zieles Ferne,
Von Staub umwölkt — wie glaubte der die Sterne?

     Doch, so heißt es weiter:
     Doch das Gespann erlahmt, die Pfade dunkeln,

Die ew’gen Lichter fangen an zu funkeln.
Die heiligen Gesetze werden sichtbar,
Das Kampfgeschrei verstummt — der Tag ist richtbar.

Die Zeit ist nicht fern, da auch unser Tag richtbar sein wird. Schon sehen auch wir durch das Staubgewölk die ewigen Lichter funkeln. Und schon ist es uns möglich, die Formel zu finden, in der das in der Frauenfrage gestellte Problem sich lösen wird.

Man hat wohl gemeint, diese Lösung sei mit dem Tage gegeben, der die volle Rechtsgleichheit der Geschlechter bringt. Jch kann in dieser Rechtsgleichheit nichts weiter erblicken als eine — und nicht einmal die einzige — notwendige Voraussetzung für das Ziel, keineswegs das Ziel selbst. Sie ist die Schale, nicht der Kern; sie schafft der Frau nur einen Raum, und es kommt darauf an, wie sie ihn ausfüllt. Und dieses „Wie“ kann nur aus der Verpflichtung abgeleitet werden, die allein dem Menschenleben Sinn und Würde gibt: die sittlichen Gesetze der eigenen Persönlichkeit in Lebensformen zum Ausdruck zu bringen.

Auf die Frauen angewandt bedeutet das nichts anderes, als die volle Wirkung ihres Frauentums, ihrer Eigenart, auf alle Lebensäußerungen der Gesamtheit. Nicht darauf kommt es an, daß ihnen hier und da ein Teilgebiet der Manneswelt freigegeben wird, nicht darauf, ob sie diesen oder jenen Beruf ausüben oder nicht, sondern auf etwas viel Größeres und zugleich Jnnerlicheres: darauf, daß die Frau aus der Welt des Mannes eine Welt schafft, die das Gepräge beider Geschlechter trägt. Die Frau will nicht nur äußerlich die gleichen Möglichkeiten haben, zu wirken, am Leben teilzunehmen, sondern sie will in dies Leben ihre eigenen Werte tragen, sie will dadurch eine neue soziale und sittliche Gesamtanschauung schaffen, in der ihre Maßstäbe dieselbe Geltung haben wie die des Mannes.

Jn der Empfindung dafür, daß dies, die Verwertung der eigenartigen Frauenkraft für die Kultur, die letzte Aufgabe der Frauenbewegung sei, liegt das Berechtigte und Fruchtbare jener vorhin gekennzeichneten individualistischen Richtung. Nur muß sie sich hüten, ihre Forderungen utopistisch auf Gebiete anzuwenden, die unter der Herrschaft volkswirtschaftlicher Notwendigkeit stehen. Sie kann weder mechanisch bestimmte Gebiete der Erwerbstätigkeit für die Frau vorbehalten oder sperren, noch darf sie vergessen, daß unsere heutigen Verhältnisse nur sehr wenigen Menschen das Glück gewähren, in ihrem Beruf ihre Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen, so sehr das natürlich eine Forderung feinster menschlicher Kultur wäre. Angesichts unserer modernen Arbeitszerlegung ist es eine unberechtigte Einseitigkeit, über „mißbrauchte Frauenkraft“ überall da zu klagen, wo die Frau im Beruf nicht ihre besondere Kraft verwerten kann. Mit dem gleichen Recht kann man von „mißbrauchter Männerkraft“ reden. Aus einer großen amerikanischen Schweineschlächterei wird berichtet, daß ein Mann dort seit 38 Jahren nichts tut, als täglich mit demselben Handgriff zahllose Male die an ihm auf einem Triebrad vorbeigeführten Tiere töten. Das ist ein besonders krasses, aber für das Wesen der industriellen Arbeit doch typisches Beispiel. Wenn so das Leben von Millionen von Arbeitern sich um einen und denselben Handgriff dreht, so kann die Frau nicht erwarten, davon eine Ausnahme zu machen. Ob und wie diese Zustände zu ändern sind, ob der größte Teil der Menschheit dauernd darauf verzichten muß, in der Berufsarbeit zugleich die volle innere Befriedigung zu finden, kann niemand voraussagen. Einstweilen aber darf man nicht für die arbeitende Frau Jdeale aufstellen, die auch für den Mann unter den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen gar nicht verwirklicht werden können. Deshalb bleibt es natürlich doch mit die wichtigste sozialpolitische Aufgabe, durch einen den Verhältnissen vorsichtig angepaßten Arbeiterinnenschutz die Frau aus der ungeheuren Tretmühle der Jndustrie für ihren Mutterberuf zurückzugewinnen. Sonst würde hier allmählich ein Stück weiblichen Einflusses verloren gehen, das an keiner andern Stelle zu ersetzen, auf keine andere Weise wieder einzubringen wäre.

Da aber, wo die Arbeit noch Persönlichkeitsausdruck sein kann, wo wirklich geistige und seelische Werte in ihr Leben gewinnen können, wo es sich um den Aufbau der Kultur im eigentlichen Sinne handelt, soll das weibliche Prinzip überall neben das männliche treten. Wäre die Welt des Mannes die beste der Welten, erfüllte sie tatsächlich, wenigstens in ihren großen Richtlinien, ein sittliches Jdeal, so könnte man diesen Anspruch der Frauen bestreiten. Aber wenn die gewaltige wissenschaftliche und technische Kultur unserer Zeit als spezifische Leistung des Mannes anerkannt werden muß, so tragen doch auch die großen sozialen Mißstände, die mit dieser Kultur emporgewachsen sind, ebenso sein Gepräge. Und vieles von dem, was diesen sozialen Mißständen zugrunde liegt, hat seinen natürlichen Gegner in der Frau. Nicht ihr entspricht es, daß immer noch das Faustrecht zwischen den Völkern herrscht, wenn auch unter rechtlichen Formen; nicht sie ist verantwortlich, wenn Verwahrlosung und Alkohol die Gefängnisse füllen und der Staat das sittliche Bewußtsein der männlichen Jugend vergiftet durch das von ihm geduldete und unterstützte Laster. Mit dem Männerstaat sind diese Zustände zu furchtbaren Schäden erwachsen, die jetzt als dunkle Probleme der Kulturmenschheit schier unlösbare Aufgaben stellen.

Nicht als ob von dem Tage an, wo dem öffentlichen Einfluß der Frauen kein äußeres Hindernis mehr entgegensteht, diese Aufgaben sofort gelöst sein würden. Die Frau hat unter Druck und Verwahrlosung so manche Eigenschaft in sich groß werden lassen, die erst unter der Verantwortlichkeit des öffentlichen Lebens allmählich verschwinden muß. Auch sind die Kräfte, die hier ins Spiel kommen, zu fein, zu innerlich, um äußere Einrichtungen schnell umzubilden, die ihnen mit der ganzen Wucht Jahrtausende alter Überlieferungen gegenüberstehen. Und dennoch ist in diesen Kräften ein Korrektiv von höchster Bedeutung gegeben. Und so sicher, wie im organischen Leben neue Kräfte neue Lebensformen schaffen, wird der Einfluß der zum Selbstbewußtsein, zum Glauben an sich erwachten Frau andere, ihr gemäßere soziale Verhältnisse zu schaffen vermögen. Vielleicht sehr langsam — nicht durch wenige äußere Siege der organisierten Frauenbewegung, sondern durch die von innen heraus still und allmählich wachsende Macht eines neuen Willens. Je stärker er wird, um so weniger wird er des äußeren Kampfes bedürfen, um sich durchzusetzen. Den Menschen selbst unbewußt, in jenem heimlichen Spiel geistiger Kräfte, das hinter jedem Werturteil, hinter jeder Willensäußerung und jedem Glaubenssatz der Menschheit steht, wird dieser neue Frauenwille wirksam werden. Wie weit es ihm gelingen wird, sich in den sozialen Lebensformen der Zukunft zur Geltung zu bringen, und wie diese Lebensformen beschaffen sein werden, das können wir jetzt nicht voraussagen. Aus einer ernsthaften Betrachtung solcher Probleme müssen alle billigen Zukunfts-Utopien ausscheiden, um so mehr, als unter dem langsamen Einfluß dieser Kräfte selbst sich allmählich die Maßstäbe ändern werden, die die jetzige Generation allzu eilfertig mit der Gehirnwage in der Hand bestimmt hat. Aber der Richtung, in der sich der Einfluß der Frau auf das Kulturleben äußern wird, ist sich die Frauengenration der Gegenwart schon bewußt. Er wird in die große Gesellschaftsordnung noch einmal alle die Kräfte einführen, die den geistig-sittlichen Untergrund der Familie gebildet haben: die seine menschliche Rücksicht auf den andern, gleichviel ober stark oder schwach, ob er geistig reich oder arm ist, die liebevolle Achtung vor dem Einzelleben überhaupt, die geistigere Auffassung des sexuellen Lebens und das immer gegenwärtige Bewußtsein, daß wir hier im Dienst der Zukunft stehen und der kommenden Generation verantwortlich sind.

Diese Kräfte werden denen des Mannes zur Seite treten, nicht an ihre Stelle. Nur ein ganz  unpsychologisches und ungezügeltes Denken konnte darauf verfallen, die Maßstäbe des Mannes durch die der Frau verdrängen und in der Frau ein neues „führendes Geschlecht“ an den Platz des alten setzen zu wollen. Nicht um eine neue Majorisierung der einen durch die andern handelt es sich, sondern um die Verschmelzung der mit den beiden Geschlechtern gegebenen geistigen Welten. Vielleicht wird diese Verschmelzung den geistigen Faktor in der Menschheitsentwicklung so stark machen helfen, daß er den wirtschaftlich-mechanischen Triebkräften die Wage zu halten vermag.

Vielleicht könnte so die gewaltige Einbuße an allgemeiner persönlicher Kultur, mit der unsere mächtige äußere Entwicklung erkauft worden ist, wenigstens zum Teil wieder eingebracht und der den materiellen Fortschritt beherrschenden Maschine der Mensch wieder entrissen werden.

Diese Vereinigung der beiden geistigen Welten zu einer sozialen Gesamtanschauung, in der keine etwas von ihrer Kraft einbüßt, das ist das Endziel der Frauenbewegung. Wenn es erreicht ist, so wird es kein führendes Geschlecht mehr geben, sondern nur noch führende Persönlichkeiten.

 

 

Quelle: Das Endziel der Frauenbewegung: Redegehalten auf dem Internationalen Frauenkongreß zu Berlin, von Helene Lange, Separatabdruck aus der Monatsschrift »Die Frau« Heft 12. Elfter Jahrgang (Berlin: W. Moeser Buchdruckerei, 1904), s. 3-16.