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Geggen die Verurteilung
Susan B. Anthony

1873

 

Kein größeres Hindernis gibt es, das der Verbesserung der allgemeinen Zustände mehr im Wege steht, keine schlimmere Klippe, daran die Veredlung und höhere Vervollkommnung der Menschheit scheitert, kein brutaleres Unrecht, das auf dem großen Gewissen der heutigen Gesellschaft lastet — als die gesetzliche Unterordnung des einen Geschlechts unter das andere. . .

Die Gleichberechtigung soll das weibliche Geschlecht aus dem Gefühl der Erniedrigung und Abhängigkeit zur Gleichstellung und Selbstbestimmung, soll es zu seiner Menschenwürde erheben. Diese Teilnahme an der Gesetzgebung soll das Weib verantwortlich machen politische und soziale Zeitfragen mitzugestalten, die Ungerechtigkeiten auszumerzen und die Rechtlosigkeit abzuschaffen, die in den Gesetzen überall gegen sie obwalten. Das Stimmrecht soll sie ermächtigen, in allen öffentlichen Angelegenheiten mitzuzählen und in Fragen, die ihre eigenen, nächsten Interessen sind, als Ehe und Eherechte, Erziehung und Kindesrechte, mitzusprechen. Ihr Stimmrecht soll Schutz und Schild der Rechtlichkeit im Staatsleben und die Abwehr jeglicher Korruption sein. Es soll die Begeisterung und Teilnahme für die höchsten Güter im menschlichen Leben erwecken, und durch die Tätigkeiten öffentlichen Interesses das Weib von dem eitlen und kindischen Tand erlösen, in welchem Untätigkeit und falsche Lebensrichtung sie bis jetzt befangen hielten. . . 

Nach all diesen Resultaten, die die Unterdrückten selbst ihren Machthabern abgerungen haben, nach einem Vierteljahrhundert so rastloser Arbeit und Mühen von Seiten der Frauen, erschien es endlich wohl an der Zeit, . . . die Stimme des Richteramtes zu befragen, jenes heiligen Orakels, das die Stimme keines Gottes, aber des Volkes, die Stimme seines geläuterten Rechtsbewusstseins sein soll — ob denn nicht endlich Recht vor Gnade ergehen und das Weib zur Selbstbestimmung über sein Wohl und Wehe, zur Teilnahme an der Gesetzgebung müsse zugelassen werden . . .  

Susan B. Anthony . . . gab in Treu und Glauben ihre Stimme ab in ihrer Vaterstadt Rochester. Sie gab sie in dem Bewusstsein einer gebietenden Pflicht als Bürgerin der Vereinigten Staaten, als Vertreterin eines großen Menschheitsprinzips. Sie legte sie in die Urne mit Bewilligung der wachhabenden Inspektoren. . .  Sie hatte Grund zu hoffen, wenn sie für ihre glorreiche Tat zur Verantwortung vor den Richterstuhl gezogen würde, dass die Wahrheit ihres Prinzips, für das sie und die besten Frauen unseres Landes gekämpft, auch in die Herzen der Richter gedrungen sei. Sie hatte sich geirrt. Geirrt mit ihr hatten sich die Bessern und Besten. Sie ist verurteilt worden, weil sie gestimmt hat und — nur ein Weib ist!

Hätte sie sich an die Wahlurne geschlichen, hätte sie zehnmal ihre Stimme abgegeben, hätte sie falsch gestimmt — wäre sie nur nicht als Weib gekommen! — sie würde nicht verurteilt worden sein. Aber nein, nein, nein, sie stimmte recht, sie stimmte ehrlich, sie stimmte, ein Weib, und wurde in den Kerker geworfen, wurde verurteilt . . . Wir haben das Experiment des allgemeinen Stimmrechts insofern es die Männer betrifft, erprobt . . .

Nur die Frauen, die Blödsinnigen und die Verbrecher sind ausgeschlossen! Tag für Tag und Jahr für Jahr haben Frauen ihre Fähigkeiten für öffentliche Amtspflichten gezeigt und ihre Berechtigung bewiesen. Es gibt fast keinen Beruf mehr, in welchem wir nicht Frauen haben als erfolgreiche Vertreterinnen ihres Geschlechts. Die Künste und Wissenschaften zählen dazu. Sie haben Talente im praktischen Leben, in großen Unternehmungen. Sie sind kompetente Rechenmeister, treue Gehilfen und kluge Finanziers. Die Tatsache, dass unter ihnen viele sind, die Eigentum besitzen und dasselbe klug verwalten, beweist ihre Verständigkeit. Warum soll ihnen nicht gestattet sein, ihre Stimme bei der Wahl abzugeben? Was für Gründe hat der Staat, die gleiche Teilhaberschaft seinen Bürgern zu versagen?

 

 

Quelle: Die gebrochenen Ketten. Erzählungen, Reportagen und Reden, Wagner, Maria [Hrsg.] (Stuttgart: Heinz, Akad. Verlag), 1983, S. 223-226.