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Der Chemische Krieg
unter besonderer Berücksichtigung
der Ergebnisse der Kampfgasstatistiken

c.4-9 Januar 1929 — Internationale Konferenz über die modernen Kriegsmethoden und den Schutz der Zivilbevölkerung (die von der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit durch ihre Kommission zur Aufklärung über den wissenschaftlichen Krieg), Frankfurt am Main, Deutschland

 

Die chemische Kriegführung stellt eine Neuerung von weittragendster Bedeutung dar, ohne die ein zukünftiger Krieg schlechterdings undenkbar ist.

Da der Kampf der Pazifisten gegen den Krieg im allgemeinen nicht ohne Kenntnis der zur Verwendung kommenden Waffen und Methoden geführt werden kann, so mußte sich auch der Pazifist auf die chemische Kriegführung einstellen. Diese Neuorientierung, die der Umformung des Krieges entspricht, hat mit ihrer starken Betonung der Giftgaswaffe vielfach zu der irrtümlichen und von den Militaristen zu Unrecht ausgebeuteten Annahme geführt, daß wir es nur auf die Gaswaffe abgesehen haben, die wir »als besonders grausam« und inhuman darstellen, um lediglich deren Verbot zu erwirken. Ja, es wird uns sogar vorgeworfen, daß wir mit der Bekämpfung des Gaskrieges einer grausameren Kriegführung Vorschub leisten.

Natürlich ist nichts verkehrter als diese immer wieder variierte Behauptung aus jenen Kreisen, die nicht umdenken können und nicht umdenken wollen, für die der Krieg im Sinne Meyers ein »Element der Weltordnung« ist, ohne welches existenzvernichtende Element die Existenz des Menschengeschlechtes seltsamerweise undenkbar sein soll.

Ich habe schon wiederholt darauf hingewiesen, daß wir in unserem Kampf gegen den Krieg gar nicht vor einer Entscheidung stehen, was für sich allein genommen grausamer ist: Moderne Explosive mit ihren ungeheuren, mechanischen Zerstörungsmöglichkeiten oder die entsetzlichen Brandwirkungen des weißen Phosphors mit seinen verschiedenen, Aktionsradius und Intensität des Brandeffektes vermehrenden Zusätzen oder die das Leben in seinen letzten Verstecken unter der Erde vergiftenden Gase. Wir stehen nicht vor einer Entscheidung, weil wir es in so und so vielen Fällen gar nicht mit einer dieser Tötungsmöglichkeiten allein zu tun haben, sondern mit der jeweiligen raffiniertesten und den besonderen Bedingungen am besten angepaßten Kombination von Giftgas-Explosiv und Phosphorwirkung.

Durch die Ermöglichung solcher Kombinationseffekte haben die Kampfgase die Tötungsmöglichkeiten auf ein Vielfaches erhöht und zugleich die Schutzmöglichkeiten auf ein Minimum herabgesetzt.

Aus diesem Grund würden wir den Gaskrieg wie jede andere Art der Kriegführung bekämpfen, selbst wenn die Gaswaffe für sich allein genommen humaner wäre als die älteren Waffen, wie ihre Befürworter glauben machen wollen.

So erwähnt der Leiter des englischen chemischen Kriegsdienstes: »Der Gaskampf ist die humanste Art einen Menschen kampfunfähig zu machen.« Der Brigadegeneral Fries, Chef des amerikanischen chemischen Kriegsdienstes sagt: »Die Gaswaffe ist human und bedeutet einen großen Gewinn für die Sicherheit der Vereinigten Staaten Nordamerikas. Und der Vater des Gaskampfes, der Breslauer Chemieprofessor Meyer, spricht sich folgendermaßen aus: »Der Gaskampfwaffe, den Wirkungen der chemischen Kampfstoffe, kommt das unbestreitbare Verdienst zu, daß sie harmloser als andere Waffen sind, da ihre Wirkungen nicht so häufig mit dem Tode endigen, wie Verwundungen mit jenen.« Und weiterhin behauptet jener Professor Meyer sogar folgendes: »Schon das Bestreben, die Härten und Grausamkeiten des Krieges mehr und mehr zu vermeiden, weist empfehlend auf den Gaskampf hin, wie denn die Kriegführung, wenigstens von deutscher Seite her, stets das Bestreben gehabt hat, die Leiden eines Krieges durch verbesserte Waffen nach Möglichkeit zu verkleinern.

Der springende Punkt ist: Sind die Bedingungen des Gaskampfes, entsprechend den schönen Versicherungen dieser Herren so beschaffen, daß man nur kampfunfähig machen will, ohne zu töten? Sehen wir uns daher etwas näher an, wie man dem angeblichen Bestreben, nur kampfunfähig zu machen ohne zu töten, nachgekommen ist.

Ich lasse die Herren selber sprechen, denen es nach ihren soeben zitierten Worten so sehr zu tun ist um die Humanität der Kampfgase, um die Schonung des Lebens der Kombattanten, um die durch den Maskenschutz angeblich gewahrte »Ethik« der Gaswaffe usf.

Die Bedingungen des Gaskampfes sind nach Meyer: »Anwendung geeigneter Gaskampfstoffe, ihre Verwendung in großen Mengen und ihre plötzliche, den Gegner überraschende Benutzung. Sämtliche drei Bedingungen hat man in vollkommenster Weise zu erfüllen angestrebt. Vor allem wurde größtes Gewicht auf Anwendung großer Kampfstoffmengen in höchster Konzentration gelegt.« Und weiter: »Der Gegner mußte mit den Gaskampfstoffen ganz überraschend bekämpft werden. Er durfte keine Zeit mehr haben, seine Gasschutzmittel zu gebrauchen.« Dementsprechend wird auch der Zweck des Gaswerferverfahrens, wie folgt, erläutert:

»Der Zweck des Gaswerferverfahrens ist derselbe wie der ursprüngliche Zweck des Blasverfahrens, nämlich den Gegner so überraschend mit einer Kampfgaswolke von höchster Gaskonzentration zu umgeben, daß er entweder seinen Gasschutz infolge der Überraschung nicht mehr oder zu spät anlegen kann oder daß sein Gasschutz infolge der überaus hohen Kampfstoffkonzentration bald erschöpft und unwirksam wird.«

Das heißt also klipp und klar, daß der Gegner dem Gas unter Bedingungen, die am sichersten töten, ausgeliefert wird. Professor Meyer sagt denn auch: »Auf jeden Fall müssen die Unerträglichkeits — und Tödlichkeitsgrenzen überschritten werden, und zwar um ein Vielfaches überschritten werden.« Für Chlor z.B. gibt Meyer als angestrebte Chlorkonzentration beim Erfassen des Gegners 0,5 Volumprozent an. Was das in Wirklichkeit bedeutet, wird dann folgendermaßen dargelegt: »Bei einem Gehalt der Luft an 0,5 Vol. % Chlor sind die Ätzerscheinungen so schwer, daß der Tod nach wenigen Minuten eintritt.«

Hinzu kommt die Anwendung der Kampfgase möglichst unter Bedingungen, die eine völlige Vernichtung in sich schließen. Nicht nur den Gasinseln wird besonders Beachtung geschenkt und die Bildung dieser nichtgetroffenen Oasen im gasverseuchten Terrain durch einen besonderen Erkundigungsdienst ermittelt und hierauf durch Gasminen eliminiert, sondern man sucht den Gegner unter Terrainverhältnissen zu fassen, wo er rettungslos dem Tode überliefert wird. Ein solches Beispiel des in der raffiniertesten Weise vorbereiteten Massenmordes gibt Meyer, in seinem Kampfgasbuch. Es heißt dort:

»So wurde in der Nacht vom 22. zum 23. Juni 1916 die französische Stellung Fleury–Thiaumont wirkungsvoll mit Grünkreuzgranaten beschossen. Die Beschießung setzte abends 10 Uhr ein und dauerte bis früh um 5 Uhr. Es standen 40 leichte Feldhaubitzenbatterien und 15 Feldkanonenbatterien zur Verfügung, die insgesamt 70000 leichte Feldhaubitzengranaten und 40000 Feldkanonengranaten verfeuerten. Die feindliche Artillerie war nach 2 Stunden zum Schweigen gebracht. Es wurden in der Hauptsache die Ränder eines Talkessels systematisch mit Grünkreuzkampfstoff vergast, so daß eine zusammenhängende Gaswolke entstand, die bei dem sehr schwachen Winde nach innen in das Tal heruntersank und die hier liegenden französischen Truppen vernichtete. Es wurden beim Sturm, der um 8 Uhr früh, 3 Stunden nach Beendigung der Vergasung, ohne erheblichen Widerstand zu finden, ausgeführt wurde, nur 2000 Gefangene heimgebracht, die von den Höhen geholt wurden und trotzdem zum großen Teil gaskrank waren, obwohl sie nur von den letzten Ausläufern der Gaswolke getroffen waren.«

Und derjenige, der kalten Blutes diesen Bericht, der ja nur einer von vielen ist, niedergeschrieben hat, hat die Stirne, von der Humanität der Gaswaffe zu sprechen und ihren großen Vorteilen in bezug auf die Herabsetzung der Mortalität. Es ist nach ihm natürlich nur eine unbeabsichtigte Nebenerscheinung, wenn die Leute dem Gas erliegen, unbeabsichtigt, wenn man unter solchen Bedingungen, wie sie in dem erwähnten Beispiel vorgelegen haben, die Grünkreuzbeschießung volle 5 Stunden, nachdem die feindliche Artillerie zum Schweigen gebracht, also die Leute schon kampfunfähig waren, noch fortsetzt und damit den letzten Maskenschutz erschöpft.

Und dabei regen sich diese Herren noch seelisch auf, wenn man die Methoden des Gaskampfs mit der Ungeziefervertilgung vergleicht.

Tatsächlich unterscheidet sich die Methode der Grünkreuzvergasung in keinem wesentlichen Punkt von dem, was geschieht, wenn eine Maus in der Falle ertränkt wird,—nur daß der Grünkreuztod unendlich qualvoller ist, weil er sich meist über viele Stunden hinzieht. Das schwere Grünkreuz sinkt zu Boden und der vergaste Talkessel, die Mulde oder die Schlucht, füllen sich mehr und mehr mit dem alles Lebendige vernichtenden Kampfstoff.

Wie man behaupten kann, man stelle bei einer Grünkreuzvergasung nicht auf den Tod des Gegners ab, ist daher unerfindlich. Eine Rettung des Grünkreuzkranken ist nur möglich, wenn er von vornherein nicht von hohen Konzentrationen erfaßt worden ist, wie bei den Mannschaften, die sich auf den, einen vergasten Talkessel einfassenden Höhen befinden, und wenn sofort Sanitätspersonal bereit steht, um die Gaskranken aus der vergifteten Zone zu entfernen. Auch leichte Gaskranke darf keinerlei Anstrengung zugemutet werden; der kürzeste Marsch kann für sie den Tod “bedeuten, selbst wenn sie sich noch vollkommen marschfähig fühlen.

Für die Leute, die sich in der Talsohle befinden, ist eine Rettung der Natur der Sache nach nicht möglich. Die Gaskonzentrationen sind dazu viel zu hoch und an ein Entrinnen ist noch viel weniger zu denken, als wenn man plötzlich auf den Grund des Meeres versenkt würde. Dazu kommt die Erschwerung des Zustandes durch die leiseste Anstrengung beim Fluchtversuch.

Wenn man kriegstechnisch anstrebt, eine feindliche Truppe, so wie dies Meyer in seinem Gaskampf buch beschreibt, in Mulden, Schluchten, Talkesseln, Wäldern unter Anwendung größtmöglicher Kampfstoffmengen zu überraschen, so ist das angestrebte Ziel die völlige Vernichtung des vergasten Gegners. Daran ändern alle Ableugnungsversuche und alle noch so schön gefärbten Statistiken nichts.

Und wenn es sogar so wäre, wie die Militärstatistiker behaupten, daß die Gasmortalität nur den 10. bis 12. Teil der Mortalität durch die früheren Kriegsmittel betrage[112], wäre das vielleicht ein Beweis für die Humanität der Gaswaffe, wie man uns glauben machen will? Im Gegenteil! was da, angeblich zur Entlastung des Gaskriegs, behauptet wird, stellt in Wirklichkeit wohl die fürchterlichste Anklage gegen die moderne Kriegstechnik dar. Man halte nur einmal die Tatsachen fest und überlege sich, was sie in praxi bedeuten.

Dem Artillerieangriff oder der Erstürmung einer feindlichen Stellung mit der blanken Waffe geht im modernen Krieg die Vergasung, das sogen. »Sturmreifmachen« dieser Stellung voraus. 100 % der so angegriffenen Truppen werden nach der schweizerischen Vierteljahrsschrift für Kriegswissenschaft, Band 6 (1925) (Schleich) bei richtiger Ausführung des Gasangriffs vom Gas erfaßt und damit wehrlos gemacht. Das Schlußergebnis nach dem durch die Gaswirkung erst ermöglichten Artillerie-und Infanteriestürmen sind aber nach dem Ergebnis der Militärstatistiken 10-bis 12mal mehr “durch die alten Kriegsmittel Getötete als durch das Gas selbst.

Auf jeden direkt Getöteten kommen also in unmittelbarer Konsequenz dieser Statistiken 9–11 noch lebende, fühlende, leidende Menschen, die in wehrlosem Zustand von den Helden des modernen Kriegs abgeschlachtet worden sind.

Fürwahr, ein ruhmvolles Propagandamittel für die Herren Gaskampfinteressenten!

Auch in bezug auf die Abwechslung der Kampfstoffe war der leitende Gedanke die Vermehrung der Tötungsfähigkeit. Dies zeigt deutlich die Angabe von Haldane, daß der erste Vorschlag, Gelbkreuz zu verwenden, bei den Engländern wie bei den Franzosen abgelehnt wurde, weil diese Substanz nach der physiologischen Untersuchung weniger giftig schien als Phosgen und Blausäure.

Als Grund für die Abwechslung der Kampfstoffe gibt, ganz im Einklang mit den Überlegungen auf der Ententeseite, Meyer folgendes an:

»Da die Reizwirkung (der ersten Kampfstoffe) bereits bei äußerst geringen Mengen eintrat, so lag darin auch ein Warnungszeichen. Die Betroffenen konnten sich durch Platzwechsel oder durch Flucht oder durch Anlegen des Gasschutzes der Einwirkung des Kampfstoffes und vor allem dem Tode bei Einwirkung zu großer Mengen entziehen. Es mußte daher versucht werden, die warnende Reizwirkung des Kampfgases abzuschwächen, damit der Gasschutz zu spät angelegt wurde, im besondern erst dann, wenn der Kampfstoff schon bis zur Schädigung eingewirkt hatte, oder aber der Kampfstoff durfte gar keine Reizwirkung haben und mußte neue physiologische Schädigungen hervorrufen, ganz verschieden von den bis dahin bekannten, oder aber schließlich, die Gaswirkung mußte eine derartige sein, daß sie durch die bis dahin benutzten Schutzmasken hindurchging und dann einwirkte, oder endlich, sie mußte den Betroffenen zwingen, seinen Gasschutz abzunehmen, so daß er dann der Einwirkung anderer, stärkerer Kampfstoffe ungeschützt unterlag. Es war das ein Fortschritt von den einfachsten Reizstoffen zu immer raffinierter wirkenden Mitteln.

Es mußte ferner die Wirksamkeit des chemischen Kampfmittels im Verlaufe des Krieges dauernd gesteigert werden. Und griffen die zuerst verwendeten Stoffe nur die empfindlichsten Organe, die Augen und die Schleimhäute der Nase und des Halses an, so wirkten die zuletzt verwendeten sogar auf die verhältnismäßig unempfindliche Außenhaut des Menschen zerstörend ein.«

Es wird also versucht, den Maskenschutz, der den Gaskampfinteressenten, wie gesagt, zum Vorwand dient, um von einer Ethik der Gaswaffe zu sprechen, im selben Moment unwirksam zu machen, wo es dem Gegner gelingt, seine Maske auf das verwendete Kampfgift einzustellen.

So wurden, nach Meyer die Grünkreuzgeschosse in sehr großen Mengen verwendet, bis der Gegner seinen Gasschutz durch Einführung der M-2-Maske darauf eingestellt hatte. Um den Gegner zu zwingen, diese Maske abzureißen, wurden am 15. Juli 1917 bei Nieuport, von deutscher Seite, dann Geschosse mit einer Füllung von Diphenylchlorarsin und später mit den noch besser wirkenden Diphenylarsincyanid, die sogenannten »Blaukreuzgeschosse«, verwendet. Um den Gegner, der sich infolge der Blaukreuzwirkung aus Atemnot seiner Gasschutzmaske entledigt hatte, dann noch besser zu treffen, wurde er gleichzeitig mit Grünkreuz belegt.

Die im vorigen erwähnten beiden Kampfstofftypen »Blaukreuz« und »Grünkreuz« wurden wie das »Gelbkreuz« so benannt, weil die Kampfgiftgranaten mit einem entsprechend gefärbten Kreuz bezeichnet werden. »Buntkreuz« bedeutet demgemäß die Bezeichnung für die Mischung der verschiedenen mit Blau-, Grün- und eventuell Gelbkreuz gefüllten Granaten, Bomben usw.
Für die Blaukreuzkampfstoffe kommt nicht so sehr ihre eigene Giftwirkung, wie der Umstand in Frage, daß sie als feinster Staub die während des Krieges benutzten Masken durchdrangen und beim Betroffenen heftigstes Niesen und danach Erbrechen erzeugten, so daß er zum Abnehmen der Maske gezwungen und damit der tödlichen Grünkreuzwirkung ausgeliefert wurde. —

Womöglich noch heimtückischer ist die Wirkung des chemisch als Dichlordiäthylsulfid anzusprechenden Gelbkreuz, das als Senf-oder Mustardgas oder Yperit bezeichnet wird. Wie im vergangenen, so wird es auch in einem zukünftigen Krieg eine hervorragende Rolle spielen und gerade für die Vergasung von Städten in Betracht gezogen werden.

Wie die meisten andern Kampfgifte fällt trotz der Bezeichnung »Giftgase« auch das Senfgas physikalisch nicht unter den Begriff eines Gases.

Vermöge seiner Schwere sinkt es zu Boden, überzieht denselben und alle Gegenstände, mit denen es in Berührung kommt, mit einer feinen, unsichtbaren, durch nichts ihre Gegenwart verratende Schicht. Wie Pest- oder Cholerabazillen oder sonstiges infektiöses Material, welches das unbewaffnete Auge auch nicht wahrzunehmen vermag, lauert es auf seine Opfer, haftet an den Sohlen, am Saum der Kleider der darüber Hinschreitenden, saugt sich wie feiner Nebel in den Kleidern fest und wird so unbemerkt in die Häuser verschleppt. Hier verdunstet das Gift, mischt sich der Atemluft bei, verankert sich unentdeckt auf allem lebenden Gewebe, auch auf der Haut.

Halten wir, wörtlich zitiert nach Meyer, für das Senfgas, dieses non plus ultra eines »humanen« Kampfgases fest, »daß es wegen seiner blasenziehenden Wirkung auf die Haut zu den gefährlichsten und wirksamsten Kampfstoffen gehört«, »daß der Atmungsprozeß in der Lunge infolge der Entzündung unterbunden wird« daß es sich um ein typisches Zellgift handelt und »der dadurch bewirkte Zellverfall nicht rückgängig zu machen« ist so daß wir »eine langsame«, fast unmerklich eintretende, aber sehr lange andauernde Störung und Schädigung des »Organismus« vor uns haben. Halten wir ferner fest, daß alles getan wird, »um dem Gegner wie bei den übrigen die Entdeckung des Gelbkreuzes zu erschweren«, sei es, daß man im Dunkel der Nacht arbeitet, oder daß man die Wolke durch Nebel oder harmlos aussehenden Rauch verdeckt, so daß die Anwesenheit von Kampfstoffen wiederum zu spät erkannt wird oder daß man die Gaswolke so plötzlich auf den Gegner wirft, »daß er keine Zeit mehr hat, seine Gasschutzgeräte anzulegen, oder daß er damit zu spät kommt« wenn also das Gift schon an die lebenden Elemente verankert ist und sich in denselben unaufhaltsam, alles, was es berührt, zum Absterben bringend, weiterfrißt.

Und nun legen wir uns nach all dem die Frage vor:

Durch welche Manöver haben es die Herren Militärstatistiker fertiggebracht, die Mortalitätsziffern für einen der giftigsten Kampfstoffe, das Gelbkreuz, bis auf weniger als 1 % herabzudrücken, eine entsprechend niedrige Invaliditätsstatistik zu erhalten und im Vergleich zu den früheren Kriegsmitteln zu Mortalitätsziffern zu gelangen, die nach Fries und West besagen, »daß ein auf dem Schlachtfeld durch Gas verwundeter Mann zwölfmal so viel Aussicht hat, wieder vollständig hergestellt zu werden, als ein durch Infanteriegeschosse oder Explosivgranaten verwundeter«.

So bemüht man sich vergebens, eine Berücksichtigung der Vermißten und der nachträglich an ihren Verletzungen Gestorbenen (welch letztere Kategorie für die bisherigen Kampfmittel nach Schleich 8 % beträgt) bei der Statistik über die Kampfgasmortalität zu finden, obschon beim Gelbkreuz Spättodesfälle häufig sind. . . .

Wie sich tatsächlich die Gelbkreuzverluste bei jeder Art der Anwendung gestalten, bei der Menschen und nicht das leere Terrain betroffen werden, zeigt z.B. der Fall von Armentières, das vom 28./29. Juli 1918 mit Gelbkreuz beschossen wurde und eine Mortalität von 12 % in der Zivilbevölkerung ergab, sowie “die Tatsache daß die Engländer bei der ersten Gelbkreuzanwendung fast 20000 Gaserkrankungen hatten. Und weiter die Angabe des Professor Meyer: »Die Wirksamkeit des Gelbkreuzes in der Flandernschlacht von 1917 steigerte sich mehr und mehr, es kam wiederholt vor, daß der Gegner froh war, wenn er in einem unter Gelbkreuzbeschießung gestandenen Gebiet den vierten Teil seiner Mannschaft unbeschädigt halten konnte.« Die dreiviertel andern, die Beschädigten also, mögen sich nach dem Rezept des erwähnten Professor Meyer getröstet haben, der sich über die Wirkungen des Senfgases, die er nicht abstreiten kann, folgendermaßen äußert:

 “Die Entzündungen sind an und für sich nicht tödlich, werden es aber häufig dadurch, daß der Atmungsprozeß in der Lunge infolge der Entzündung unterbunden wird.«

Mit andern Worten: Wenn man jemandem die Kehle zuschnürt, so ist das an und für sich nicht tödlich; man stirbt nur, weil der Atmungsprozeß infolge des Zuschnürens der Atemwege unterbunden wird!

Womöglich noch dreister wird verfahren, wenn es sich darum handelt, den Arbeitern Sand in die Augen zu streuen, die in den Fall kommen, Kampfgase herzustellen. Nach Schleich würden die Erfahrungen von Edgewood eine viel günstigere Unfallstatistik für die Herstellung von Kampfgasen aufweisen, als die gesamte deutsche chemische Industrie mit ihrem doch immerhin relativ kleinen Prozentsatz an giftigen Produkten.

Die Grundlage für dieses wunderbare Ergebnis bildet die Farrowstatistik, die für die 7 letzten Monate des Jahres 1918-1925 als »casualties« bezeichnete Unfälle bei der Giftgasherstellung in Edgewood nennt, wobei 674 allein auf Senfgas fallen.

Hieran knüpft Schleich folgende »Erläuterung«:

»Farrow spricht nur von casualties, nicht von Todesfällen. Aus dem Umstand, daß kein Todesfall erwähnt wird, ist zu schließen, daß auch keiner vorgekommen ist.« Schleich zieht also den Trugschluß, daß keine Todesfälle vorgekommen sind, einzig und allein aus dem Wort »casualties«, das, wie in jedem Dictionnaire nachzulesen ist, die Gesamtheit der Unfälle mit und ohne tödlichem Ausgang in sich schließt. Selbstverständlich werden dann diese schweizerischen Interpretationsübungen im Englischen dankbar von den ausländischen Kampfgaskollegen gebucht. Das Lorbeerkränzlein, das der Kampfgasmeyer den Chemikern und Arbeitern in seinem Buch gewunden hat, die bei der Herstellung von Kampfgiften ihr Leben einbüßten, ist bald vergessen in seinem eigenen Hurrageschrei: Todesfälle bei der Kampfgasherstellung gibt es nicht!”

Ein weiteres Argument für die Humanität der Gaswaffe ist, daß man sich ihr meistens durch die Flucht entziehen könne.

So stellt Schleich in der Schweizerischen Zeitschrift für Kriegswissenschaft die Sache so dar, daß man nur den kampffähigen Soldaten durch Gaskampfstoffe zum Davonlaufen bringen wolle, ohne ihm weiteren Schaden zu tun!

Leider ist aber ein Davonlaufen beim Gasschießen und Gaswerfen, das gerade wegen der überraschenden Wirkung, d.h. also, um eine Flucht unmöglich zu machen, eingeführt wurde, so gut wie ausgeschlossen, und was die älteren Angriffe mittelst des Blasverfahrens betrifft, so orientiert über die Fluchtaussichten die folgende Beschreibung von Meyer:

»Ein Entrinnen aus dieser sich häufig viele Kilometer weit erstreckenden Gasmasse war nicht möglich, da sie selbst galoppierende Pferde einholte und verschlang.«

Ähnlich lautet die von Meyer nach Auld wiedergegebene Schilderung über die »moralische Wirkung« der Gaswolke bei Ypern:

»Wer kann die Gefühle und den Zustand der farbigen Truppen schildern, als sie sahen, wie die ungeheure Wolke grüngelben Gases aus dem Erdboden hervorquoll und sich langsam mit dem Winde auf sie zu bewegte. Wie der“Dampf am Boden klebte, wie er in jedes Loch und in jede Vertiefung hereinkroch und wie er die Gräben und Granattrichter, zu denen er kam, ausfüllte. Zuerst Erstaunen, dann Erschrecken, dann, als der erste Saum der Wolke sie einhüllte und sie hustend und in Todesangst nach Luft ringen ließ, brach eine Panik aus. Wer sich noch rühren konnte, riß aus und lief und versuchte der Wolke, die ihm unerbittlich folgte, zu entkommen, freilich meistens vergeblich . . . « Und nach einem englischen Feldgeistlichen zitiert Meyer über die Wirkung der Gaswolke auf die Franzosen und Engländer folgendes: »Eine grüngraue Wolke war auf sie zugekommen und war bei ihrem Zuge über das Land gelb geworden, hatte alles, was sie berührte, zerstört und hatte den ganzen Pflanzenwuchs vernichtet. Kein menschlicher Mut hätte einer solchen Gefahr ins Auge sehen können. Dann taumelten die französischen Soldaten in unsere Mitte. Sie waren blind, sie husteten, sie keuchten, ihre Gesichter tiefrot, vor Todesangst waren sie sprachlos, und hinter ihnen, in den gasgefüllten Gräben, stellten wir fest, daß sie Hunderte von toten und sterbenden Kameraden zurückgelassen hatten. Das Unmögliche war nur zu wahr. Es war die greulichste und nichtswürdigste Sache, die ich jemals gesehen habe.«

Bei dieser »moralischen Wirkung« auf den Gegner stellt man bewußt, offenbar zur Erhöhung der »Humanität« der Gaswaffe, auf »die nicht zu unterschätzende Zerrüttung der Nerven des Gegners« ab (Meyer 1. c.S. 48). Wenn sich dann nach alldem eine Psychose entwickelt, dann ist das Gas daran natürlich vollkommen unschuldig. Die Statistik konstatiert: »Die Erkrankung ist auf Neurasthenie zurückzuführen.« Die Gaskampfritter waschen ihre Hände in Unschuld, die Militärversicherung aller Staaten lacht sich ins Fäustchen, der brave »Untertanenverstand« kuscht, und die öffentliche Meinung wird den Herrn, die »den Krieg als einen Zweig der angewandten Chemie betrachten und weiter ausbauen«, wie Meyer wörtlich sagt, nicht fürder unbequem.

Und weitab von den Ohren dieser Herrn schleppt der physisch und psychisch gebrochene Gaskranke — der angebliche Neurastheniker — sein armseliges Dasein, fern vom Mitleid, das wenigstens dem sichtbar Verstümmelten nicht versagt ist, langsam, ganz langsam in den Tod.
Ich habe hier die aus dem letzten Krieg bekannten Wirkungen der Kampfgifte und deren angebliche Humanität an Hand der Zugeständnisse krassester Militaristen dargestellt. Das hier Geschilderte stellt daher zweifellos nur ein Minimum von dem dar, was wirklich war, und nur ein Minimum von dem, was in einem kommenden Krieg grauenvollste Wirklichkeit sein wird. Dies zeigt schon das entsetzliche Bild, das der Oberstkommandierende der französischen Armee, der Marschall Foch, über die Großschlacht der Zukunft entworfen hat. Ich erwähne aus seiner bekannten Schilderung nur die folgenden vielsagenden Worte:

»Giftgasbomben verbreiten tödliche Dämpfe, die jede Schutzmaske durchdringen und in wenigen Minuten den Tod herbeiführen; unverlöschbare Phosphorbomben verbrennen in einer halben Minute das Fleisch bis auf die Knochen. Hunderte von Tanks, von denen jeder tausend todbringende Schüsse in der Minute ausspeien kann, Maschinengewehre, leichte automatische Gewehre, die in der Hand einer Million Männer hunderte Millionen Kugeln in der Minute ausstreuen, toben mit, und über all diesem Entsetzlichen steht der Himmel, verdunkelt von tausenden Aeroplanen, von denen Schauer des Grauens zur Erde strömen. Das ist jedoch nicht das ganze Bild; denn hinter den Linien stürzen Städte und Dörfer unter dem vernichtenden Feuer der Artillerie und der Fliegerbomben in Flammen jählings zusammen.«

Ja, mehr noch, die Zivilbevölkerung wird nicht nur, wie in dem von Marschall Foch gezeichneten Bild in die Kampfhandlung mit einbezogen. Sie wird vielmehr zum Hauptobjekt des Angriffs. So sagt der Major Endres in seiner ausgezeichneten Broschüre »Giftgaskrieg, die große Gefahr«: »Man führt den Krieg der Zukunft gar nicht mehr gegen die feindlichen Armeen, sondern in erster Linie gegen die unbewaffneten Massen des Feindes in den Städten und den großen Industriezentren. Man massakriert diese Massen durch Gas, das man aus Flugzeugen herabwirft, zu Hunderttausenden und schließt den gewollten Frieden auf dem Leichenfeld des feindlichen Volkes.«

Diese Internationale Konferenz wird noch mehrmals Gelegenheit haben, sich mit der scheußlichsten und gefährlichsten Art des chemischen Krieges auseinanderzusetzen, wie sie uns in der Form des Luftgaskriegs, insbesondere in seinen Auswirkungen gegenüber der Zivilbevölkerung, entgegentritt. Ich darf es mir also wohl versagen, die Bilder des Entsetzens auch an dieser Stelle heraufzubeschwören, gegen die selbst die Hölle Dantes in Nichts versinkt.

Resolution

Die von der

Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit

veranstaltete Konferenz zum Studium der modernen Kriegsmethoden und des Schutzes der Zivilbevölkerung, die vom 4. bis 6. Januar in Frankfurt a.M. tagte, ist nach Entgegennahme von unwiderleglichen Zeugnissen von Sachverständigen, Wissenschaftlern und Technikern, deren Wert und wissenschaftliche Ehrlichkeit außer aller Frage steht, zur Gewißheit gelangt,

1.     daß es keine wirksamen Schutzmaßnahmen gegen die Zerstörungsmittel gibt, die die Wissenschaft in den Dienst des Krieges stellt,

2.     daß die Abmachungen zwischen den Regierungen, die auf das Verbot dieser Mittel hinzielen, keinerlei Sicherheit bieten, da ja die Staaten ihre moralischen Verpflichtungen dadurch verletzen, daß sie das für diese Kriegsform nötige Material herstellen lassen,

3.     daß ein neuer Krieg, der seine Verheerungen auf die Zivilbevölkerung ausdehnen würde, ein Krieg der gegenseitigen Vernichtung der Völker wäre und den Untergang der Zivilisation bedeuten könnte.

In der Überzeugung, daß es infolge dieser neuen Kriegsmethoden überhaupt keine Möglichkeit mehr gibt, die Sicherheit der Staaten zu gewährleisten, daß der Rüstungswettkampf alle Länder zugleich dem Ruin entgegenführt, empfehlen wir als dringende Pflicht:

1.     die Massen über den Ernst und die Ausdehnung der drohenden Gefahr aufzuklären,
2.     sie vor der Täuschung zu warnen, daß ein sicherer Schutz möglich sei,
3.     in ihnen darum das Interesse an den Friedensproblemen zu wecken und sie zu veranlassen, nicht nur die politischen, sondern auch die wirtschaftlichen Ursachen des Krieges, deren Bedeutung immer größer wird, zu erforschen und zu bekämpfen,
4.     den Regierungen, die feierlich »auf den Krieg verzichtet haben«, in Erinnerung zu rufen, daß die totale Abrüstung die erste Folge dieses Verzichtes sein sollte, und daß ohne diese ergänzenden Maßnahmen der Kellogg-Pakt als ein diplomatisches Manöver zur Irreführung der Völker erscheinen könnte,
5.     eine kraftvolle Bewegung zur Umgestaltung der öffentlichen Meinung hervorzurufen, damit alle Abrüstungsvorschläge, besonders diejenigen, die von der Sowjetrepublik gemacht worden sind, in kürzester Frist geprüft werden, durch die zu diesem Zwecke gebildete Kommission.

In Anbetracht dieser Tatsachen fordert die Konferenz auf:

6.     Einzelpersönlichkeiten und insbesondere Organisationen zum Kampf gegen die Kriegsrüstungen zu vereinigen und vor allem an die Arbeiter zu appelieren, die mehr als alle anderen einen kraftvollen Druck auf die Regierungen ausüben könnten.

 

 

Quelle: Vortrag 1929.

 

Ebenfalls: Frauen Gegen den Krieg: Herausgegeben und eingeleitet von Gisela Brinker-Gabler, (Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag) 1980.