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Erotik und Altruismus

1921 — Die Weltliga für Sexualreform auf Sexualwissenschaftlicher Grundlage (World League Conference for Sexual Reform), Berlin, Deutschland

 

Einer der häufigsten Irrtümer und zugleich eine Ursache der verhängnisvollsten Unzulänglichkeiten des Liebeslebens ist der kindische und beschränkte Aberglaube, daß man schon den Rausch der Sinne, unklarer Gefühle und Instinkte „Liebe” nennen und daß diese bloße Empfindung jenseits aller Moral, aller bewußten Gestaltung zu höheren Formen sei und bleiben dürfe. Die Verkünder dieser platten und daher weit verbreiteten Auffassung bilden sich oft ein, damit noch über dem Durchschnitt, „über dem Philister” zu stehen. In Wirklichkeit ist es eines der sichersten Kennzeichen von Philistertum, seelischer Flachheit, zu glauben, eine der höchtsten Erscheinungen menschlicher Kultur: eine wahrhaft durchseelte Liebe, die Einheit sinnlich-seelischen Glücks, ließe sich auf Grund bloßer Launen und Triebe, ohne seelisch-sittliche Anspannung aller Kräfte, ohne Kultivieruing der Gesamtpersönlichkeit erreichen. Die triviale Auffassung, man sei “über seine Gefühle niche Herr”, die Willkür, die von vornherein darauf verzichtet, irgendwelche klare, bewußte sittliche Gestaltung, starke Willensimpluse in den wichtigsten Lebensbeziehunger auszuüben, ist ohne Zweifel eine der Hauptursachen für die bei der Mehrzahl der Menschen jedenfalls noch so mangelhafte Höherentwicklung der sexuellen Liebe überhaupt — ein Zustand, der uns der höchsten, köstlichsten, seltensten Lebensfreuden beraubt. Es ist ischer notwendig und berechtgt, überlebte, unzulängliche alte Moralgesetze abzulehnen, die ihren Sinn lange verloren haben. Ebenso notwendig ist es aber, zu erkennen, daß in der bloßen Entfesselung eines Triebes, in der Befreiung der sinnlichen Anziehung von jeder ethischen Bestimmung und Durchdringung die Erlösung und Verkollkommnung der Liebe niemals gefunden werden kann. Eine wirklich höhere Stule menschlichen Liebeslebens, die zweifellos auch auf andere Gemeinschaftsverhältnisse der Menschen lördernd und erhebend wirken würde, läßl sich nur dadurch erreichen, daß man den ganzen Umfang seines Wesens in jede erotische Beziehung mit hineinnimmt, seine höchsten Ideale dem anderen Menschen genau wie sich selbst gegenüber zu verwirklichen sucht. Nietzsches tiefes Wort von der Ueberwindung der Leidenschaften — nicht durch die kirchliche Kur der Ausschneidung, der Kastration, sondern durch die Äufforderung: «Du legtest dein höchstes Ziel deinen Leidenschaften ans Herz» so wurden sie deine Tugenden und Freudenschaf len!” — gilt in einem viel unbedingteren Sinne gegenüber der erotischen Leidenschaft, als viele heute schon zu erkennen bereit sind, lieber den starren Begriff der „Treue”, wie die alte christliche Moral ihn zum Beispiel kannte, der sich gewiß nicht so sehr aus ethischen Motiven als aus einer alten, heute überlebten Besitzmoral — die Frau, ihr Körper, als Besitz gedacht — entwickelt hat, glaubt man heute hinaus zu sein. Niemals aber wird eine höhere Liebe denkbar sein, die, wenn sie dies auch heute noch höchste Ideal einer geschlossenen, lebenslänglichen Einheit zwischen zwei Menschen nicht zu verwirklichen vermag, dann nicht instinktiv die Verpflichtung, den andern vor jedem möglichen Schmerz, so wie sich selber, zu schützen, als selbstverständlich empfindet. Die Erfüllung der ethischen Forderung: so zu handeln, wie wir wünschen, daß andere gegen uns handeln, ist eine unumgängliche Voraussetzung für jede Verleinerung unseres sexuellen Lebens wie allen Gemeinschaftslebens überhaupt. Jeder Versuch, danach zu handeln, wird uns zeigen, daß wir damit zwar nicht alle Konflikte aus der Welt schaffen, wohl aber mildern und lindern können. Um nun zu diesem Ziel wahrhafter sexueller Kultur zu gelangen, welche die Schranken des Geschlechts überwunden liat und beiden Geschlechtern gerecht wird, müssen noch manche Voraussetzungen erfflüt sdn. Die Frau darf nicht länger in den wichtigsten Lebensfragen, zu denen für die Frau fast noch mehr als für den Mann» ihrer Gattangsaufgabe wegen, das Liebesleben gehört, in Abhängigkeit gehalten werden, nicht nur stumm und gehorsam sittliche Anordnungen und soziale Befehle empfangen. Als ein innerlich reiler, geistig geklärter Mensch muß die Frau lernen, sich mit den Liebesproblemen selbständig auseinanderzusetzen. Nicht nur vom Standpunkt der Psychologie, der Kunst aus muli dies geschehen, wie wir es bei einer ganzen Reihe moderner Schrift-steller beiden Geschlechts sehen, sondern auch vom Standpunkt der Wissenschalt aus, der Naturwissenschaft wie der Philosophie, der Soziologie, der Ethik, der Weltanschauung überhaupt. Es ist schließlich kein Zufall, daß in jenen ersten hohen Liebesphilosophien der Menschheit, die für alle Zeit klassisch bleiben, in Platons Dialogen über die Liebe, im “Symposion”, Sokrates seine letzte Weisheit durch eine Frau, urch Diotima empfängt. . . 

 

 

Source: Sexualreform und Seexualwissenschaft: Vorträge gehalten auf der Internationalen Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage in Berlin, (Stuttgart: Julius Püttmann, Verlagsbuchhandlung) 1922, ss. 98-106.