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Homosexualität und Frauenbewegung

8 Oktober 1904 — Gehalten auf der Jahresversammlung des wissentschaftlichen-humanitären Komitees, Hotel Prinz Albrecht, Berlin, Deutschland

 

Die Frauenbewegung ist eine kulturgeschichtliche Notwendlgkeit!

Die Homosexualität ist eine naturgeschichtliche Notwendigkeit, sie bedeutet die verbindende Brücke, den naturgemäßen und selbstverständlichen Übergang zwischen Mann und Weib. Das ist heute für die Wissenschaft eine feststehende Tatsache, gegen die sich Ignoranz und Unduldsamkeit vergebens sträuben. Gleichwohl wird sich mancher gefragt haben, wie ich dazu gekommen bin, die kulturgeschichtliche und die naturgeschichtliche Wahrheit in einem Atem zu nennen, zwei Dinge, die bei oberflächlicher Betrachtung Gegensätze zu sein scheinen.

Der Grund für diese verbreitete Ansicht ist darin zu suchen und zu finden, daß man im allgemeinen, wenn von Homosexuellen die Rede ist, nur an die urnischen Männer denkt und übersieht wie viele homosexuelle Frauen es gibt, von denen freilich weniger geredet wird, weil sie — ich möchte fast sagen ,,leider” — keinen ungerechten und aus falschen sittlichen Anschauungen hervorgegangenen Strafgesetzparagraphen zu bekämpfen haben.

Den Frauen droht kein peinliches Gericht und kein Zuchthaus wenn sie ihrem angeborenen Liebestriebe folgen. Aber der seelische Druck, unter dem die Urninden stehen, ist ebenso schwer, ja noch schwerer, als das Joch, unter dem ihre männlichen Leidensgefährten seufzen. Sie sind für die nach dem äußeren Scheine urteilende Welt um vieles auffallender als selbst der weibischste Urning. Sie werden nur zu oft von moralisierendem Unverstand mit Spott und Hohn überschüttet.

Für unser gesamtes soziales Leben aber sind die urnischen Frauen von mindestens ebenso hoher Bedeutung wie ihre männlichen Gefährten, denn sie beeinflussen, auch ohne daß von ihnen geredet wird, unser Leben in mannigfaltiger Weise. Wenn man sich die Tatsachen vor Augen hält, wird man bald zu dem Schlusse kommen, daß sich Homosexualität und Frauenbewegung nicht gegensätzlich gegenüberstehen, sondern daß sie vielmehr dazu bestimmt sind, sich gegenseitig zu Recht und Anerkennung zu verhelfen und die Ungerechtigkeit, die sie verdammt, aus der Welt zu schaffen.

Die homosexuelle Bewegung kämpft für das Recht aller Homosexuellen, für das der Männer, wie für das der Frauen. Das wissenschaftlich-humanitäre Komitee hat sich, darin vorteilhaft von allen anderen Bewegungen, die ein Interesse an dem Kampf haben oder haben sollten, ausgezeichnet, daß es sich auch den Urninden immer mit lebhafter Anteilnahme gewidmet hat.

Die Frauenbewegung erstrebt die Anerkennung der lange mißachteten Frauenrechte; sie kämpft namentlich für möglichste Selbständigkeit und rechtliche Gleichstellung der Frau mit dem Manne innerhalb und außerhalb der Ehe. Die letzteren Bestrebungen sind besonders wichtig, weil es erstens unsere heutigen wirtschaftlichen Verhältnisse und zweitens der durch Statistik festgestellte nominelle Überschuß von Frauen in der Bevölkerung unseres Vaterlandes mit sich bringen, daß eine große Anzahl von Frauen nicht zur Ehe gelangen kann. Diese Frauen sind, soweit sie nicht von Haus aus über ausreichende Geldmittel verfügen — was nur bei etwa 10% der Fall ist — gezwungen, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen und in irgend einem Berufe ihr tägliches Brot zu verdienen. Die Stellung und Anteilnahme der homosexuellen Frauen in der Frauenbewegung zu und an einem ihrer wichtigsten Probleme ist von größter und einschneidenster Bedeutung und verdient die allgemeinste und weitgehendste Beachtung.

Man muß bei der homosexuellen Frau zweierlei unterscheiden, ihre Persönlichkeit im allgemeinen und ihre sexuelle Veranlagung. Das wesentliche ist natürlich ihre Persönlichkeit im allgemeinen, erst in zweiter Linie kommt die Richtung ihres sexuellen Triebes, ohne dessen genaue Kenntnis und gerechte Würdigung man freilich nie imstande sein wird, sie voll und gerecht zu beurteilen, denn der physische Liebestrieb ist fast immer nur ein Ausfluß, eine natürliche Folge der psychischen Eigenschaften; d. h. er richtet sich bei Menschen mit vorwiegend männlichen Charaktereigenschaften naturgemäß auf das Weib und umgekehrt, ohne daß die Natur immer auf den äußeren Körperbau des Menschen Rücksicht nimmt. Die homosexuelle Frau besitzt viele Eigenschaften, Neigungen und Fähigkeiten, die wir gewöhnlich als rechtsgültigen Besitz des Mannes betrachten. Ganz besonders entfernt sie sich auf der Bahn des Gefühlslebens von der mittleren weiblichen Linie. Während bei dem ausgesprochen heterosexuellen Weibe das Gefühl fast immer — Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel — vorherrschend und ausschlaggebend ist, überwiegt bei der Urninde meist der klar blickende Verstand. Sie ist, wie im Durchschnitt der normale Mann, objektiver, energischer und zielbewußter, als das welbliche Weib, ihre Gedanken und Empfindungen sind die des Mannes; sie ahmt den Mann nicht nach, sie ist veranlagt wie er, dies ist der entscheidende springende Punkt, den die Hasser und Verleumder des sogenannten ,,Mannweibes” immer außer acht lassen, weil sie sich nie die Mühe geben, der homosexuellen Erscheinung einmal gründlich nachzuforschen. Es ist gar leicht, etwas zu verurteilen, was man nicht versteht, ebenso leicht, wie es schwer zu sein scheint, eine vorgefaßte und falsche Meinung zu korrigieren oder durch Aufklärung korrigieren zu lassen. Ich möchte an dieser Stelle bemerken, daß es eine absolute und eine nur psychische Homosexualität gibt, daß also männliche Charaktereigenschaften nicht unbedingt einen sexuellen Trieb zum eigenen Geschlecht im Gefolge haben müssen; denn jeder Urninde sind naturgemäß auch mehr oder weniger zahlreiche weibliche Züge eigen, die sich bei den ungeheuer verschiedenen Gradabstufungen in den Übergängen zwischen den Geschlechtern auch wohl einmal im sexuellen Trieb zum Manne äußern können. Freilich pflegt sich der Trieb in diesen Fällen meist auf einen sehr weiblichen Mann zu erstrecken, als die naturgemäße Ergänzung des Weibes mit stark männlicher Seele. Ich erinnere zum Beweise für diese Behauptung nur an George Sand und Daniel Stern, die beide Männer liebten, welche zu den weiblichsten aller Zeiten gehören, Friedrich Chopin und Franz Liszt. Auch Klara Schumann, die große Künstlerin, war einem Manne mit stark weiblichen Neigungen vermählt — Robert Schumann. Es scheint übrigens, als ob sich bei den Frauen, die ich als psychisch homosexuell bezeichnet habe, der Geschlechtstrieb nie besonders kräftig entwickelt hat, auch George Sand und Daniel Stern liebten ihre Künstler weit mehr mit der Seele, als mit den Sinnen; ich bin daher geneigt, bei psychisch homogenen Frauen gewissermaßen von ,,unsexuellen” Naturen zu sprechen. Da die homosexuelle Frau mit ihren männlichen Anlagen und Eigenschaften niemals eine passende Ergänzung zu dem Vollmann bilden kann, so ist es ohne weiteres klar, daß die Urninde sich nicht für die Ehe eignet. Die urnischen Frauen selbst wissen das zumeist sehr wohl, oder empfinden es doch unbewußt und sträuben sich ihrer Natur gemäß gegen den Gang zum Standesamt. Aber wie oft haben sie ohne Eltern, Basen, Tanten und die anderen lieben Freunde und Verwandte gerechnet, die ihnen tagaus, tagein von der Notwendigkeit einer Ehe vorreden, die ihnen mit ihren weisen Ratschlägen das Leben zur Qual machen. Sie tappen oftmals blindlings in eine Ehe hinein, dank unserer unverständigen Mädchenerziehung, ohne klare Anschauungen und Begriffe über die Sexualität und das sexuelle Leben. So lange es die Ansicht der sogenannten ,,Gesellschaft” bleibt, daß die alte Jungfernschaft, d. h. die Ehelosigkeit des Weibes etwas Unangenehmes, ja etwas Minderwertiges bedeutet, so lange wird es nur zu oft eintreten, daß die Urninde sich durch äußere Umstände in eine Ehe treiben läßt, in welcher sie weder Glück finden, noch Glück schaffen kann. Eine solche Ehe aber ist doch wohl weit eher unmoralisch zu nennen, als das Liebesbündnis zweier Menschen, die eine mächtige Natur gewaltig zueinander reißt.

Die Frauenbewegung will die Ehe reformieren, sie will rechtlich vieles ändern, damit die heute oft so unerquicklichen Zustände aufhören, damit Unfrieden und Rechtlosigkeit, Willkür und sklavische Unterwerfung verschwinden aus dem Heim der Familie, damit ein gesunderes und kräftigeres Geschlecht erblühe.

Bei diesen Reformbestrebungen darf die Frauenbewegung nicht vergessen, wie viel Schuld die falsche Bewertung der homosexuellen Frau an den unfreundlichen Zuständen trägt; ich sage ausdrücklich “wie viel Schuld,” es liegt mir selbstverständlich fern, dieser falschen Bewertung etwa die ganze Schuld aufbürden zu wollen. Aber schon um diesen Teil der Schuld willen ist es eine einfache und unabweisbare Pflicht der Frauenbewegung, die breitesten Volksmassen in Wort und Schrift darüber aufzuklären, wie verderblich die Ehe von Homosexuellen ist. Zunächst natürlich für die beiden beteiligten Menschen. Der Mann wird einfach betrogen, denn ganz abgesehen von ihrer ideellen Bedeutung ist der Abschluß einer Ehe ein gegenseitiger Vertrag, in welchem beide Teile Rechte und Pflichten übernehmen. Eine homosexuelle Frau aber kann ihre Pflichten dem Manne gegenüber nur mit Abneigung, im besten Falle mit Gleichgültigkelt erfüllen. Eine erzwungene sexuelle Gemeinschaft ist ohne Zweifel für beide Beteiligte eine Qual und kein anständig denkender Mann kann darin etwas Erstrebenswertes sehen, kann mit einer urnischen Frau das Glück finden, das er in der Ehe gesucht hat. Sehr oft kommt es vor, daß solch ein Mann aus anständigem Empfinden heraus um der Frau willen den sexuellen Verkehr mit ihr meidet und die Befriedigung seines Triebes in den Armen einer Maitresse oder bei käuflichen Dirnen sucht. Wem aber die wahre Sittlichkeit und die Gesundheit unseres Volkes so ehrlich am Herzen liegt, wie der Frauenbewegung, der muß zur Vermeidung der Eheschließung von Homosexuellen tun, was in seinen Kräften steht. Und die Frauenbewegung kann in der Aufklärungsarbeit unendlich viel tun, damit alle Kreise erkennen, daß die Ehe von Urninden ein dreifaches Unrecht ist, gegen den Staat, die Gesellschaft und ein ungeborenes Geschlecht, denn die Erfahrung lehrt, daß die Nachkommenschaft urnischer Menschen nur in den seltensten Fällen gesund und krätftig ist. Die unglücklichen, ohne Liebe, selbst ohne Lust empfangenen und geborenen Geschöpfe stellen einen großen Prozentsatz zu der Zahl der Schwachsinnigen, Blödsinnigen, Epileptischen, Brustkranken, Degenerierten aller Art. Auch sind die krankhaften sexuellen Triebe, wie Sadismus und Masochismus oft ein Erbteil urnischer Menschen, die wider ihre Natur Kinder erzeugten. Staat und Gesellschaft haben ein dringendes Interesse daran, daß urnische Menschen nicht heiraten, denn auf ihnen lastet später nicht zum kleinsten Teil die Sorge für solche kranke und schwache Wesen, von denen sie ihrerseits kaum irgend eine Gegenleistung erwarten dürfen.

Ein wesentlich praktischer Punkt für die heterosexuellen Frauen scheint mir der zu sein, daß sie, wenn die Urninden ohne Schädigung, ihrer sozialen Stellung ehelos bleiben könnten, um vieles leichter den sie doch, gemäß ihrer natürlichen Veranlagung, zumeist befriedigenden Wirkungskreis der Gattin, Hausfrau und Mutter finden würden. Eine genaue statistische Erhebung über die Zahl der homosexuellen Frauen fehlt uns leider noch, doch dürfen wir nach meinen sehr großen Erfahrungen und eingehenden Studien auf diesem Gebiete annehmen, daß das Resultat, das die statistischen Erhebungen von Herrn Dr. Hirschfeld über die Verbreitung der männlichen Homosexualität ergeben haben, auch auf die Frauen in Anwendung gebracht werden kann. Demzufolge würde es in Deutschland annähernd die gleiche Anzahl urnischer und lediger Frauen geben. Das ist nicht falsch aufzufassen. Ich will z. B. sagen, es gäbe 2 Millionen lediger und 2 Millionen homosexueller Frauen. Unter diesen 2 Millionen der ledigen befindet sich naturgemäß schon ein größerer Prozentsatz der urnischen, sagen wir 50%, also 1 Million, unter den Homosexuellen aber befinden sich wiederum etwa 50%, die sich infolge äußerer Umstände verheiratet haben, die also, wie Sie sich sicherlich ausrechnen werden, den 50% normal sexueller lediger Frauen bei einer Eheschließung im Lichte standen. Die Konsequenzen aus dieser Tatsache sind leicht zu ziehen. Bei möglichster Ehelosigkeit aller Urninden würde die Wahrscheinlichkeit einer Eheschließung für die heterosexuellen Frauen um ein beträchtliches steigen, womit ich freilich nicht gesagt haben will, daß hier etwa ein Universalmittel gegen die alte Jungfernschaft gefunden worden sei, denn die zunehmende Animosität der Männer gegen die Ehe hat ihren Grund vielfach in sozialen Verhältnissen, über welche zu reden hier nicht der Ort ist.

Wenn die Frauenbewegung sich aber kräftig der homosexuellen Seits der Ehefrage annähme, dann würde sie damit auch einen Schritt weiter tun auf dem Wege zu dem schönen und hohen Ziele, die Uridee der Ehe, das Liebesbündnis zwischen Mann und Weib, wieder zu ihrem Rechte gelangen zu lassen. Denn es ist eine ethische Forderung, der die heute so zahlreichen Geld- und Vernunftheiraten täglich ins Gesicht schlagen, daß die Menschen nur aus Liebe den Bund der Ehe eingehen sollen.

Ich habe bemerkt, daß viele homosexuelle Frauen heiraten weil sie sich ihrer Natur zu spät bewubt werden und so ohne ihre Schuld unglücklich werden und unglücklich machen. Auch hier kann die Frauenbewegung helfend eingreifen, indem sie, wenn sie über Jugenderziehungsfragen spricht, — was oft geschieht — auch einmal darlegt, wie notwendig es ist, größere Kinder und junge Leute, an denen die Eltern in langer, liebevoller und genauer Beobachtung den homosexuellen Trieb wahrgenommen haben, — und ehrliche und verständige Beobachter können ihn an mancherlei Anzeichen erkennen — in vernünftiger, faßlicher Weise über das Wesen der Homosexualität und ihrer eignen Natur aufzuklären. So könnten sie unendlich viel frühe Qual und vieles Elend verhüten, anstatt daß sie — wie es häufig geschieht — mit allen Mitteln versuchen, homosexuelle Kinder in heterosexuelle Bahnen zu zwingen. Mann braucht dabei nicht zu befürchten, daß etwa weichliche heterosexuelle Kinder als homosexuell angesehen werden könnten und so zu Homosexuellen gemacht werden, denn erstens hätte eine solche Aufklärung natürlich nur nach Konsultation eines auf dem Gebiete erfahrenen Arztes zu erfolgen und zweitens hat auch bereits die Erfahrung gelehrt, daß weder Verführung noch sonst irgend etwas, den heterosexuellen Trieb in einen homosexuellen verwandeln kann und umgekehrt. Gewiß, ein heterosexueller Mensch kann sich zu homosexuellen Handlungen verführen lassen, aber dies geschieht dann aus Neugier, Genußsucht oder um ein Surrogat für mangelnden normalen Verkehr zu haben, — wie letzteres z. B. zuweilen bei den Seeleuten der Fall ist — der angeborene sexuelle Trieb aber wird dadurch nicht verändert und behauptet unter normalen Umständen immer das Feld.

An dieser Stelle möchte ich meinerseits noch einrnal sagen, was Dr. Hirschfeld schon öfter ausgeführt hat, daß nämlich die Homosexualität keine Begleiterscheinung irgend einer sozialen Klasse ist, daß sie unter den höheren Volksschichten keineswegs häufiger vorkommt als unter den niederen oder umgekehrt. Kein Vater und keine Mutter, also keiner von Ihnen, verehrte Anwesende, der Kinder hat, ist von vorneherein sicher, daß sich unter seinen Sprößlingen kein urnisches Kind befindet. In bürgerlichen Kreisen nimmt man merkwürdigerweise an, daß in ihnen die Homosexualität keine Stätte habe und aus diesen Kreisen rekrutieren sich auch die ärgsten Feinde der Bewegung für die Befreiung der urnischen Menschen. Ich möchte als Beispiel für diese Behauptung anführen, daß mein Vater, als zufällig einmal die Rede auf Homosexualität kam, mit überzeugter Bestimmtheit erklärte: “,in meiner Familie kann so etwas nicht vorkommen!” Die Tatsachen beweisen das Gegenteil! Ich brauche wohl dem nichts hinzuzufügen!

Zur Ehefrage zurückkehrend, möchte ich noch bemerken, daß eine homosexuelle Frau fast niemals wird, was man mit dem Ausdrucke ,,alte Jungfer” bezeichnet. Dieser Umstand ist bemerkenswert, weil er die Urninden besonders im späteren Alter leicht erkenntlich macht.Sehen Sie sich einmal eine unverheiratete homosexuelle Frau zwischen 30 und 50 Jahren an, Sie werden nichts von den so viel bewitzelten Eigenschaften des ledigen heterosexnellen Weibes vom Durchschnitt an ihr finden. Diese Beobachtung ist lehrreich, denn sie beweist, daß eine vernünftige und maßvolle Befriedigung des Geschlechtstriebes auch die Frau lebensfroh, frisch und tatkräftig erhält, während absolute sexuelle Abstinenz leicht die Eigenschaften entwickelt und ausbildet, die wir an der alten Jungfer unangenehm empfinden, z. B. Unliebenswürdigkeit, hysterische Reizbarkeit usw.

Um nun aber den Homosexuellen und überhaupt allen Frauen die Möglichkeit zu verschaffen, ihrer Natur entsprechend leben zu können, ist es durchaus notwendig, den Bestrebungen der Frauenbewegung sich tatkräftig anzuschließen, die den Frauen erweiterte Bildungsmöglichkeit und neue Berufe öffnen wollen. Ich berühre zunächst den uralten Streitpunkt um den Wert der Geschlechter. Ich glaube mit einigem guten Willen könnte man sich leicht einigen, wenn man auch hier wieder untersucht, welche Absichten die nie fehlende Natur bei der Schaffung von Mann, Weib und den Übergängen zwischen beiden gehabt hat. Und da muß man zu dem Schlusse gelangen, daß es falsch ist, ein Geschlecht höher zu bewerten, als das andere — gewissermaßen von einem erstklassigen — dem Manne — einem zweitklassigen — dem Weibe — und einem drittklassigen Geschlechte — dem urnischen — zu reden.

Die Geschlechter sind nicht verschiedenwertig, sie sind nur verschiedenartig. An dieser Tatsache, aus der sich naturgemäß und klar ergibt, daß Mann, Frau und Urning sich nicht für alle Berufe gleich gut eignen, kann die Frauenbewegung nichts ändern — die verständige Richtung will es auch nicht. Das weibliche Weib ist schon organisch von der Natur dazu bestimmt, vor allen Dingen Gattin und Mutter zu werden. Und sie hat alles Recht, auf diese, ihre Naturbestimmung stolz zu sein, denn einen höher zu bewertenden Beruf, als den der Mutter gibt es nicht! Die Frau, die Gattin und Mutter oder eines von beiden ist, braucht natürlich über diesem Beruf nicht die ganze übrige Welt zu vergessen — sie soll vielmehr ihren wohlgemessenen Anteil an allen Ereignissen des öffentlichen Lebens nehmen — daß sie dazu imstande ist, will die Frauenbewegung erreichen und das ist wohl eines ihrer schönsten Ziele.

Dem normalen, d. h. dem durchaus männlichen Manne, sind von der Natur vielfach andere Funktionen zugewiesen, andere Wege gezeigt, als der Frau. Er ist — was nicht geleugnet werden kann — zumeist schon körperlich mehr für einen harten Lebenskampf prädestiniert, als das Weib, so daß ihm Berufe offenstehen, die sich für die Frau ganz von selber schließen, z. B. der Soldatenberuf, alle Berufe, die schwere körperliche Arbeit verlangen usw. Selbstverständlich gibt es auch hier eine Brücke, auf welcher die Berufe liegen, die Mann und Weib gleich gut ausfüllen können, je nach ihrer besonderen Individualität. Die Logik der Feinde der Frauenbewegung krankt vor allem daran, daß sie sämtliche Frauen in dem Kollektivbegriffe ,,das Weib” vereinigt, ohne zu bedenken, daß die Natur zwei völlig gleiche Wesen nicht geschaffen hat, daß es bei der Beurteilung, ob ein Mensch für einen Beruf tauglich ist oder nicht, einzig und allein auf seine innere Persönlichkeit ankommt, die sich wieder aus der Mischung seiner männlichen und weiblichen Eigenschaften ergibt. Wir können demgemäß eine weibliche Individualität, bei welcher die weiblichen Eigenschaften — eine männliche, bei der die männlichen Eigenschaften vorherrschen und endlich eine mannweibliche oder weibmännliche Individualität, bei der eine annähernd gleiche Mischung beider vorhanden ist, unterscheiden.

Als die Natur die Geschlechter verschiedenartig schuf, wollte sie ganz gewiß nicht damit sagen, daß es für die Frau nur einen Wirkungskreis geben dürfe — das Haus — und für den Mann einen anderen — die Welt — sondern ihr Wille war und ist ohne Zweifel, daß jeder Mensch die Möglichkeit hat, den Platz zu erreichen, den er nach seinen Eigenschaften und Fähigkeiten auszufüllen imstande ist.

Die Mischungsverhältnisse der männlichen und weiblichen Eigenschaften im Menschen sind so unendlich verschieden, daß es ein Erfordernis einfachster Gerechtigkeit ist, jedes Kind — ob männlich oder weiblich gilt gleich — zur Selbständigkeit zu erziehen. Der erwachsene Mensch wird dann selbst entscheiden müssen, ob ihn seine Natur ins Haus oder in die Welt, ob in die Ehe oder zur Ehelosigkeit treibt. Ein freies Spiel der Kräfte muß stattfinden, dann wird sich am besten und sichersten die Scheidung vollziehen können zwischen den Frauen, die irgend einen außerhäuslichen, künstlerischen oder gelehrten Beruf ergreifen können und wollen und denen, welche die Kraft dazu nicht in sich fühlen. Und wieder sind es die Eltern, die eine heilige Pflicht darin sehen sollten, jedem Kinde nach seiner Individualität gerecht zu werden und unter allen Umständen ein schablonenhaftes Erziehungssystem zu vermeiden. Etwas anderes ist es natürlich mit der Schule, die eines gewissen Schemas ncht entbehren kann, das aber in Zukunft für Mädchen und Knaben übereinstimmend sein muß, um mit dem altem Wahne aufzuräumen, daß Mädchengehirne weniger Schulweisheit in sich aufnehmen können als Knabengehirne.

Man braucht nicht zu fürchten, daß bei gleicher Mädchen und Knabenausbildung und Bildungsmöglichkeit die Konkurrenz in allen Berufen ins Ungemessene steigen würde — besonders, wie von feindlicher Seite behauptet wird — in akademischen Berufen. Gerade für diese wissenschaftlichen Berufe eignen sich besonders die homosexuellen Frauen, weil sie eben die dem weiblichen Weibe meist mangelnden Eigenschaften der größeren Objektivität, Tatkraft und Ausdauer haben. Diese Beobachtang schließt natürlich nicht aus, daß es unter unseren weiblichen Ärztinnen, Juristinnen usw. auch äußerst tüchtige heterosexuelle Frauen gibt, aber trotzdem möchte ich behaupten, daß die weitaus meisten heterogenen Frauen unter günstigen Verhältnissen ihr Glück fast stets und jedenfalls bedeutend lieber in der Ehe suchen und eine tiefere und umfassendere Bildung für das weibliche Geschlecht hauptsächlich deshalb erstreben, um dem Manne eine gleichwertige Gefährtin sein zu können, die er nicht nur mit den Sinnen liebt, sondern die er achtet, weil er erkennt, daß sie auf derselben geistigen Stufe steht wie er, und der er dann die gleichen Rechte, die er besitzt, als etwas Selbstverständliches zuerkennt.

Männer, Frauen und Homosexuelle haben also von einer zweckmäßigeren Erziehung, sowie von der weitesten Bildungsmöglichkeit der männlichen und weiblichen Jugend gleichmäßigen Vorteil. Die Männer erhalten denkende und verstehende Lebensgefährtinnen, die Frauen erlangen allmählich eine würdigere und rechtlich angesehenere Stellung und die Urninden können sich frei den ihnen zusagenden Berufen widmen.

Wie der homosexuelle Mann oftmals mit Vorliebe Berufe ergreift, die ans Weibliche anklingen — z. B. die Damenschneiderei, die Krankenpflege, den Beruf des Kochs, des Dieners — so gibt es auch Berufe, denen die urnischen Frauen besonders geneigt sind; wie die Erfahrung lehrt, weisen unter anderen der ärztliche, der juristische, der landwirtschaftliche und der selbst schaffende Künstlerberuf eine besonders große Zahl homosexueller Frauen auf. Es gibt Männer, die, wie Weininger, behaupten, alle geschichtlich, literarisch, wissenschaftlich oder sonst irgendwie bekannten, bedeutenden oder berühmten Frauen seien homosexuell gewesen. Nach meinen bisherigen Ausführungen brauche ich wohl nicht besonders zu betonen, daß ich diese höchst einseitige Auffassung für unbewiesen halte, da uns nicht nur die Geschichte, sondern auch der eigene Augenschein täglich die Haltlosigkeit dieser Theorie lehren. Andererseits kann und soll auch nicht geleugnet werden, daß viele bedeutende Frauen allerdings homosexuell veranlagt waren — ich nenne nur Sappho, Christine von Schweden, Sonja Kowalewska, Rosa Bonheur. Dagegen dürfte es doch recht sonderbar erscheinen, wollte man Elisabeth von England und die große Katharina von Rußland zu den urnischen Menschen rechnen; letztere war vielleicht bisexuell — ihre vielen männlichen und weiblichen “Freundschaften” deuten wenigstens daraufhin — rein homosexuell war sie jedenfalls nicht.

Im Gegensatze zu den Anti-Feministen, die das weibliche Geschlecht für minderwertig erklären und nur die Frauen überhaupt gelten lassen wollen, die stark männliche Charakterzüge aufweisen, halte ich die Frauen den Männern an sich für gleichwertig, bin aber der Überzeugung, daß die homosexuelle Frau ganz besonders dazu geeignet ist, in der großen, alle Kulturländer umfassenden Bewegung für die Rechte der Frauen eine führende Rolle za spielen.

Und in der Tat — von den ersten Anfängen der Frauenbewegung an bis zum heutigen Tage — sind es zum nicht geringen Teil homogene Frauen gewesen, die in den zahlreichen Kämpfen die Führerschaft übernahmen, die erst durch ihre Energie die von Natur gleichgültige und sich leicht unterwerfende Frau des Durchschnitts zum Bewußtsein ihrer Menschenwürde und ihrer angeborenen Rechte brachten.

Ich kann und will keine Namen nennen, denn so lange in vielen Kreisen die Homosexualität noch als etwas Verbrecherisches und Naturwidriges, im besten Falle als etwas Krankhaftes gilt, könnten sich Damen, welche ich als homosexuell bezeichnen wollte, beleidigt fühlen. Überhaupt gebietet es Anstand und Pflicht, nicht indiskret zu sein und die edlen Liebesgefühle einer urnischen Frauenrechtlerin gehören so wenig vor das Forum der Öffentlichkeit, wie Empfindungen Heterosexueller. Wer die Entwickelung der Frauenbewegung auch nur oberflächlich verfolgt hat, wer einige oder viele führende Frauen der Bewegung persönlich oder dem Bilde nach kennt, der wird, wenn er nur einen Funken Verständnis für homosexuelle Zeichen hat, die Urninden unter den Frauenrechtlerinnen bald herausfinden und er wird erkennen, daß nicht die Schlechtesten unter ihnen sind.

Wenn wir alle Verdienste, die sich homosexuelle Frauen seit Jahrzehnten um die Frauenbewegung erworben haben, betrachten, so muß es sehr erstaunen, daß die großen und einflußreichen Organisationen dieser Bewegung bis heute keinen Finger gerührt haben, der nicht geringen Anzahl ihrer urnischen Mitglieder ihr gutes Recht in Staat und Gesellschaft zu verschaffen, daß sie nichts, aber auch gar nichts getan haben, um so manche ihrer bekanntesten und verdientesten Vorkämpferinnen vor Spott und Hohn zu schützen, indem sie die breitere Öffentlichkeit über das wahre Wesen des Uranismus aufklärten. Sie hätten es nicht einmal so schwer, darauf hinzuweisen, wie sich die Eigenheiten der homosexuellen Anlage vielfach ungewollt und ohne die geringste persönliche absichtliche Nachhülfe in Aussehen, Sprache, Haltung, Bewegung, Kleidung usw. ausdrücken und die betreffenden Urninden völlig ungerechterweise dem herzlosen Spott roher oder unwissender Menschen preisgeben. Dazu ist aber zu bemerken, daß die homosexuellen Frauen natürlich durchaus nicht immer ein mit ihrer Natur im Einklang stehendes männliches Äußere aufweisen. Es gibt auch zahlreiche Urninden mit vollkommen weiblichem Äußern, das sie selbst, aus Furcht als homosexuell bekannt zu werden, gern noch durch sehr weibliches Gebahren unterstützen, eine Komödie, die ihnen freilich oft recht sauer wird und unter der sie schwer leiden.

Ich kenne den Grund für diese vollständige, — bei der Frauenbewegung, die sonst sogar rein geschlechtliche Dinge mit seltener Freimütigkeit und Sachlichkeit behandelt — doppelt auffallende Zurückhaltung sehr wohl. Er besteht in der Furcht, die Bewegung könne sich durch Anschneiden der homosexuellen Frage, durch energische Vertretung des Menschenrechtes der Uranier in den Augen der noch blinden und unwissenden Menge schaden. Ich gebe gern zu, daß diese Furcht in den Kindertagen der Bewegung, in der sie sorgfältig vermeiden mußte, gewonnene Freunde wieder zu verlieren, berechtigt und eine durchaus einwandfreie Entschuldigung für die einstweilige völlige Ignorierung der homosexuellen Frage war.

Heute aber, wo die Bewegung unaufhaltsam fortschreitet, wo keine bureaukratische Weisheit, keine Philisterei ihren Siegeszug mehr hemmen kann, heute muß ich das völlige Beiseitelassen einer zweifellos recht wichtigen Frage doch als ein Unrecht bezeichnen, als ein Unrecht, das die Frauenbewegung nicht zum geringen Teile sich selber zufügt. Die sogenannte “gemäßigte” Richtung wird sich freilich kaum je zu einer Tat zugunsten der Homosexuellen aufraffen, aus dem einfachen Grunde, weil Taten dieser Richtung überhaupt nicht liegen. Der Sieg wird einmal im Zeichen des Radikalismus erfochten werden und die Radikalen sind es auch, von denen wir erwarten, daß sie endlich den Bann brechen und einmal ehrlich und often bekennen: ja, es gibt eine große Anzahl Urninden unter uns, und wir verdanken ihnen eine Fülle von Mühe und Arbeit und auch manchen schönen Erfolg. Nicht, als ob ich nun etwa alle Fragen der Frauenbewegung vom homosexuellen Standpunkt behandelt sehen, als ob ich gar den Urninden alle oder auch nur den größten Teil der Verdienste zuschieben wollte; — das wäre wohl ebenso töricht, wie es falsch ist, das homosexuelle Problem gar nicht zu beachten.

Ohne Zweifel, die Frauenbewegung hat größere und wichtigere Aufgaben zu erfüllen, als die Befreiung der Homosexuellen, — aber großen Aufgaben kann sie nur gerecht werden, wenn sie kleinere nicht achtlos beiseite läßt.

Die Frauenbewegung soll daher die homosexuelle Frage nicht zu einer besonderen Wichtigkeit erheben, sie braucht nicht auf Markt und Gassen gegen die ungerechte Bewertung der Uranier zu predigen, — sie könnte dies gar nicht, ohne sich tatsächlich zu schaden — ich verkenne diese Seite der Sache absolut nicht; sie braucht nichts weiter zu tun, als der homosexuellen Frage den gebührenden Platz einzuräumen, wenn sie über die geschlechtlichen, ethischen, wirtschaftlichen und rein menschlichen Beziehungen der Geschlechter zueinander spricht. Das kann sie; und damit kann sie auch langsam und ohne viel Geschrei aufklärend wirken.

Ich komme nun noch zu einem Punkte, den die Frauenbewegung in den letzten Jahren besonders in den Kreis ihrer Arbeit hineingezogen hat, — ich meine die Prostitution. Man kann über dieselbe vom ethischen Standpunkte aus denken wie man will, man wird auf jeden Fall unter den nun einmal gegebenen Verhältnissen noch auf lange Zeit hinaus mit ihr rechnen müssen. Ich persönlich halte die Prostitution für ein zwar bedauerliches, aber notwendiges Übel, das auszurotten so lange unmöglich sein wird, als menschliche Leidenschaften bestehen, das wir im günstigsten Falle um ein weniges werden eindammen können, — ein Ziel, das immerhin der schweren Arbeit wert ist.

Von nicht unwesentlicher, bisher ganz außer acht gelassener Bedeutung für den Kampf der Frauenbewegung gegen das Überhandnehmen der Prostitution und damit gegen die völkervernichtenden venerischen Krankheiten, erscheint es mir, daß nachweislich unter den Prostituierten etwa 20 Prozent homosexuell veranlagt sind. Das mag zunächst befremden, scheinen doch Homosexualität und dauernder sexueller Verkehr mit dem Manne das Widersprechendste zu sein, das es geben kann. Auf meine Frage, wie es denn möglich sei, daß eine Urninde zur Prostituierten werde, antwortete mir mehr als einmal ein ,,Mädchen der Straße,” daß sie ihr trauriges Handwerk rein als Geschäft auffaßte, — ihr geschlechtlicher Trieb komme dabei gar nicht in Betracht, den befriedige sie bei der Geliebten. Widrige häusliche und wirtschaftliche Verhältnisse hatten diese Mädchen auf die Straße getrieben.

Wenn es der Frauenbewegung gelänge, den Frauen alle geeigneten Berufe zu öffnen, eine gerechte Bewertung der Eigenschaften und Veranlagungen des einzelnen Menschen durchzusetzen, dann würde es bald keine homosexuelle Dirne mehr geben und ein großer Teil der heterosexuellen Mädchen, die unter den schlechten sozialen Verhältnissen heute der Prostitution in die Arme laufen, würde sich ebenfalls besser und menschenwürdiger ernähren können. Sie würden sich von vornherein bemühen, einen Beruf zu ergreifen, weil sie in ihrer Jugend verständiger und zur Selbständigkeit erzogen würden. Ein Mädchen, das früh für den Lebenskampf gestählt wurde, wird weit seltener auf der Straße enden, als ein Mädchen, das gedankenlos und ohne Kenntnis von den einfachsten und natürlichsten Dingen des Lebens dahin lebte. In gewissem Sinne ist der Kampf der homogenen Frau um ihre soziale Anerkennung auch ein Kampf gegen die Prostitution, wobei ich freilich nochmals betone, daß es sich in diesem Kampfe immer nur um eine Eindämmung, nie aber um eine völlige Unterdrückung handeln kann.

Nicht zu vergessen ist, daß bei gerechterer Beurteilung des Uranismus im allgemeinen, eine große Anzahl homosexueller Männer, die heute aus Furcht, ihre Veranlagung könnte bekannt werden, sehr wider ihre Neinung zu Dirnen gehen, diesen Schritt unterlassen würden. Das hätte natlürlich eine Abnahme der Geschlechtskrankheiten zur Folge, die freilich zahlenmäßig nicht riesengroß wäre, — meiner Ansicht nach aber trotzdem wertvoll, denn jeder einzelne Fall, in dem eine syphilitische oder andere venerische Ansteckung vermieden wird, bedeutet einen Gewinn für die Volksgesundheit und damit für das kommende Geschlecht, auf dem das Wohl und die Größe unseres Vaterlandes beruht.

Die Frauenbewegung kämpft für das Recht der freien Persönlichkeit und der Selbstbestimmung. Sie muß sich also sagen, daß der ächtende Bann, den die Gesellschaft heute noch auf die Uranier schleudert, dieses Recht unterdrückt, und daß es somit ihre Pflicht ist, den Homosexuellen im Kampfe beizustehen, gerade wie sie den unehelichen Müttern, den Arbeiterinnen und vielen andern mehr hilfreich und tatkräftig zur Seite steht in ihrem Kampfe um Freiheit und Recht, in ihrem Kampfe gegen altüberlieferte falsche Meinungen von einer Sittlichkeit, die eigentlich Unsittlichkeit ist, von einer Moral, die beim Lichte sich als schlimmste Unmoral erweist. Wie die Frau ein urewiges Menschenrecht hat, das rohe Gewalt ihr einstens nahm, und das sie sich nun mutig zurückerobern will in heißen Schlachten, so haben auch die Uranier ein angeborenes, urewiges Naturrecht auf ihre Liebe, die edel und rein ist, wie die heterosexuelle Liebe, wenn die, die sie empfinden, gute Menschen sind. Gute Menschen aber gibt es unter den Homosexuellen, wie unter den sogenannten “Normalen”.

Ich möchte vor allen Dingen den Schein, als ob ich die urnischen Menschen zu hoch einschätzte, vermeiden. Ich kann Sie versichern, verehrte Anwesende, ich tue es nicht, — ich kenne die Fehler und Schwächen der Homosexuellen nur zu gut, aber ich kenne auch ihre guten Seiten, und darum darf ich sagen: die Uranier sind nie und nimmer bessere, sie sind aber auch keine sehlechteren Menschen als die Heterosexuellen, — sie sind nicht anderswertig, nur andersartig.

Meine Ausführungen kurz zusaminenfassend, betone ich noch einmal, daß an allen Fragen unserer großen Frauenbewegung die urnische Frau ihren wohlgemessenen Anteil in jeder Beziehung hat, daß sie es oftmals gewesen ist, die eine Einzelbewegung in Fluß gebracht hat, weil sie infolge ihrer, der Männerart zuneigenden, Charaktereigenschaften naturgemäß doppelt die vielen, vielen Ungerechtigkeiten und Härten empfindet, mit denen Gesetze, Gesellschaft und altbackene Sitte die Frau behandeln, — daß ohne die tatkräftige Mitwirkung der Urninden die Frauenbewegung heute noch nicht so weit wäre, als sie es tatsächlich ist, — wie an Beispielen leicht zu beweisen wäre.

Die Frauenbewegung und die Bewegung für das Recht der Homosexuellen sind lange einen dunklen Weg gegangen, auf denen sich ihnen zahllose Hindernisse entgegen stellten. Nun wird es langsam heller und heller um uns und in den menschlichen Herzen. Nicht, daß der schwere Kampf für das Recht der Frauen und der Uranier schon zu Ende wäre; wir stehen auf beiden Seiten noch mitten im Streite und manche heiße Schlacht wird noch geschlagen werden, noch manches Opfer einer falschen Wertung, eines unglücklichen und irrigen Gesetzes wird matt und todeswund hinsinken müssen, ehe beide Bewegungen ihr Ziel — die Freiheit der Persönlichkeit — erreichen. Ein gutes Teil früher aber wird die Höhe erreicht sein, wenn beide Bewegungen erkennen, daß sie manche gemeinsame Interessen haben, wenn sie sich friedlich die Freundeshand reichen, um dort zusammen zu kämpfen, wo es Not tut. Und wenn zuweilen noch ernste und harte Stunden kommen für beide, dann heißt es nicht feige verzagen, sondern mutig fort durch feindliche Reihen, fort bis zum Siege, der uns sicher ist. Denn die Sonne der Erkenntnis und der Wahrheit ist im Osten aufgegangen, — keine Macht der Finsternis kann sie noch aufhalten in ihrem strahlenden Lauf, — langsam wird sie höher und höher steigen! Nicht heute oder morgen, aber in einer nicht all zu fernen Zukunft werden Frauenbewegung und Uranier ihre Fahnen am Ziele aufpflanzen!

Per aspera ad astra!

 

 

Source: Rüling, Anna. “Welches Interesse hat die Frauenbewegung an der Lösung des homosexuellen Problems? Eine Rede.” Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen unter besonderer Berücksichtigung der Homosexualität (Annual for Sexual Intermediaries with Special Emphasis on Homosexuality) ed. Magnus Hirschfeld, vol. 7 (1905), pp. 131-51.