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Die Errichtung
und Unterbringung von Volkspflegestätten

30. Mai 1919 — Österreichischen Parlament, Wien, Österreich

 

Hohes Haus! Der Herr Abgeordnete Dr. Mayr hat bereits den Standpunkt der christlichsozia- len Partei klar gelegt. Er hat auch darauf hingewiesen, dass es für die christlichsozialen Mitglieder des Ausschusses aus prinzipiellen Gründen von großer Schwierigkeit war, trotz dieser geänderter Form und trotz der Ausnahmezustän — de dem Gesetze die Billigung zu geben. Wenn es doch geschehen ist, so hat Herr Abgeordnete Dr. Mayr sehr richtig betont, dass wir von der Notwendigkeit der Schaffung von Volkspflegestätten derart überzeugt waren, dass wir glaubten, in diesem Momente alle anderen Rücksichten in den Hintergrund stellen zu müssen. Zu meiner Freude hat der Herr Referent selbst darauf hingewiesen, dass es eigentlich viel richtiger wäre, das Gesetz als „Volkspflegestättengesetz“ und nicht als Schlössergesetz zu bezeichnen. Ich habe diesen Eindruck auch schon sehr lange, denn ich finde es im Prinzip ganz unrichtig, dass man gerade bei diesen so leicht zu Missverständnissen Anlass gebenden Gesetz gerade die negative Seite bei der Bezeichnung für das wichtigste halten zu sollen glaubt und das Gesetz als Schlössergesetz bezeichnet, während doch das Wichtige und Ausschlagge- bende für uns ist, dass man damit den armen und bedürftigen Kranken helfen will. In unserer Hoffnung, dass hier wirklich großzügig geholfen werden kann, ist allerdings ein Tropfen Wermut gefallen. Im Ausschusse wurde oft erklärt und nicht etwa nur von den Kritikern des Gesetzes, sondern auch von der Regierung, auch von Seiten des Herrn Unterstaatssekretärs für Volksgesundheit, dass sich leider sehr wenige Gebäude finden werden, die sich wirklich für diese Zwecke eignen. Unsere Gedanken richten sich deshalb heute mehr denn je nach St. Germain und wir hoffen, dass die Friedensbedingungen, die uns gegeben werden, derartige sein werden, dass sie den wirtschaftlichen Aufbau von Deutschösterreich ermöglichen. Wir Frauen aber hoffen ganz besonders, dass die Frauen der Entente, die ja auch Mütter von Kindern sind, es nicht ertragen können, wenn sie hören, dass alleine bis zum Jahre 1917 mehr als 100.000 Menschen in Deutschösterreich der Hungerblockade zum Opfer gefallen sind. Unser vorliegendes Volkspflegestättengesetz will sich ganz besonders derjenigen annehmen, die unter dem Kriege am allermeisten gelitten haben. Es ist folglich ganz selbstverständlich, dass in erster Linie die Invaliden, die Kriegsbeschädigten und alle diejenigen in Betracht kommen, die sich durch die Leiden und Strapazen des Krieges innere Krankheiten geholt haben. Uns Frauen und Mütter freut es aber von ganzem Herzen, dass man gleich nach diesen Kriegsbetroffenen an die Kinder gedacht hat. Der Herr Referent hat ja schon ausführlich darüber gesprochen. Allerdings ein Bedenken kommt uns da wieder, das ist, mit welcher Kinder—, mit welcher Jugendfürsorge soll man eigentlich anfangen. Wir wissen ja — und erst kürzlich haben wir es auf einer Tagung der Säuglingsfürsorge gehört –, dass die meisten Kinder in Deutschöster- reich, besonders in Wien, ein körperliches Untergewicht von 6 bis 10 Kg haben. Wir wissen ferner, dass sie Tuberkulose den Todeskeim in die Brust vieler Kinder gesenkt hat, dass die Sterblichkeit der Tuberkulosekranken in Wien allein von 1913 bis 1917 um 100% zugenommen hat. Wir erinnern uns aber auch all der Kinder, die im Kriege vielleicht nicht körperlich erkrankt sind, die aber durch die Außerhausbeschäftigung der Mutter an ihre Seele schweren Schaden gelitten, die verwahrlost sind und dringend der Fürsorgeerziehung bedürfen. Auch der vielen jugendlichen Arbeiterinnen gedenken wir, die in den Munitionsfabriken im ju- gendlichsten Alter von 14 und 15 Jahren vielleicht einen hohen Verdienst gefunden haben, deren Sittlichkeit dabei aber den allergrößten Schaden gelitten hat und die heute geschlechtskrank die Spitäler in allergrößter Zahl besetzen. Für alle diese zu sorgen, wird eine unbedingte Notwendigkeit sein.

Eine Kategorie aber möchten wir noch ganz besonders hervorgehoben haben, das sind die Mütter. Die Mütter haben ganz gewiss genauso wie die Invaliden und Kriegsbeschädigten an den Opfern des Krieges zu tragen gehabt. Nicht nur, dass sie es waren, die vor allem unter den körperlichen Entbehrungen leiden mussten, auch seelisch haben sie Schwerstes ertragen müssen, indem sie ihre teuersten Angehörigen hin geben mussten, beständig um das Leben ihrer nächsten Familiemitglieder bangten. Abgesehen von diesen Leiden hat auch der schwere Doppelberuf der Frauen ihnen das Recht erworben, in erster Linie bei der Gesundung berücksichtigt zu werden. Wir wissen ja, dass gerade die Mütter zahlreicher Kinder waren, die sich zur Nachtarbeit gemeldet, die den Tag über in ihrem eigenen Haus gearbeitet haben und bei Nacht hinter den schwersten und kompliziertesten Maschinen gestanden sind, um nur das Brot für den nächsten Tag zu verdienen. Ich spreche aber hier noch von einem anderen Gesichtspunkte aus, wenn ich ganz besonders für die Mütter eintrete und an die Regierung die Bitte richte, bei den Volkspflegestätten in erster Linie an sie zu denken und das ist die Frage der Bevölkerungspolitik. Alle, denen die Zukunft Deutschösterreichs am Herzen liegt, müssen mit Angst und Bangen hören, dass, während im Jahre 1913 noch etwa 100.000 Menschen mehr geboren wurden als gestorben sind, es im Jahre 1917 fast umgekehrt ist, dass fast hunderttausend Menschen mehr gestorben als ge- boren worden sind. Ich glaube also, in dieser Be- ziehung wird es am allerwichtigsten sein, an die sofortige Schaffung von Entbindungs —, von Säuglingsheimen, von Erholungsstätten für Mütter und Kinder zu schreiten.

Noch einen anderen Punkt möchte ich ganz kurz erwähnen. Wenn wir uns den Kreis vor Augen halten, für den diese Volkspflegestätten sorgen sollen, kommt uns dabei der Gedanke, dass vielleicht, wie es in letzter Zeit so oft war, wieder nur an die Mindestbemittelten gedacht ist. Gewiss, wir halten es für ganz selbstverständlich, dass in allererster Linie für die Mindestbemittelten besorgt wird. Wir freuen uns und begrüßen jedes einzelne Liebesga- benpaket, dass aus der Ferne kommt und dass den Kindern der Arbeiter zugutekommt. Wir begleiten in Gedanken mit Jubel jeden Zug, der unsere armen, unterernährten, blassen Arbeiterkinder in die Schweiz oder nach Schweden führt. Aber über eines müssen wir uns ganz klar sein, dass ist, dass die Verelendung, dass die gesundheitlichen Schäden, dass die Not und die Entbehrungen beim Mittelstand heute genauso groß sind. Man ist immer geneigt, anzunehmen, es sei nur ein Schlagwort, wenn man von der Not und wirtschaftlichen Schwäche des Mittelstandes spricht. Das ist aber absolut nicht der Fall. Mir sind nicht eines, sondern tausende von Kindern bekannt, die im ersten Stadium tuberkulos sind, und bei denen die Eltern ganz genau sehen, dass das Kind dem sicheren Tode zueilt, die aber nicht die Möglichkeit haben, für ihr Kind zu sorgen. Den Volkspflegestätten, die wir ja in geringer Zahl heute schon haben, können sie sie aus sozialen Gründen nicht übergeben. Man kann da nicht den Einwand machen, dass diese Standes- unterschiede aufhören sollen. Einmal existieren sie heute noch, dann aber, wenn wir die Kinder des Mittelstandes an den wenigen Fürsorgeaktionen, die heute existieren, teilnehmen ließen, wäre die natürliche Folge, dass bei den noch schlechter Ge- stellten bei den Mindestbemittelten, bei den Arbeitern nur Verbitterung hervorrufen würde, und sie sagen würden, die geben ihre Kinder dorthin, nehmen uns jetzt den Platz weg und wir müssen zurücktreten. Also auch in dieser Beziehung möchte ich an die hohe Regierung die Bitte richten, dass bei dieser Aktion auch an den Mittelstand gedacht wird und dass auch solche Volkspflegestätten ge- schaffen werden, bei denen ein gewisses Entgelt genommen wird, aber das Entgelt in einer Höhe, das im Einklang und in Übereinstimmung mit dem Einkommen des Mittelstandes steht. Ich möchte mir deshalb erlauben der hohen Regierung folgende Resolution vorzulegen.

„Die Regierung wird aufgefordert, im Interesse einer gesunden Nachkommenschaft bei der Richtung von Volkspflegestätten auf die Schaffung von Entbindungsund Säuglingsheimemn sowie Erholungsstätten für Mütter und Kinder besondere Rücksicht zu nehmen. Ferner möge die Regierung dafür Sorge tragen, dass die zu errichtenden Volkspflegstätten nicht nur den Mindestbemittelten zugänglich sind, sondern auch den in ihrer Existenz und Gesundheit mindestens ebenso bedrohten Kreisen des Mittelstandes. Für den Aufenthalt in diesen Anstalten wäre ein Preis zu berechnen, der im Einklange mit den wirtschaftlich so geschwächten Verhältnissen des Mittelstandes steht”.

 

 

Quelle: Parlement Republik Österreich; der 8. Sitzung am 30. Mai 1919; S. 443.445.

 

So: “Frauen im Parlament.” Parlamentsdirektion, Redaktion: Susanne Roth, Ulrike Felber, (Wien: Parlamentsdirektion,) 2019. S. 17-18.