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Zur Eröffnung der Realkurse
für Frauen

10. Okt. 1889 — Realkurse für Frauen, Charlottenschule, Berlin, Deutschland

 

Das Leben das sich bei uns mehr oder weniger im stillen Hause abspann, treibt jetzt draussen in mächtig pulsenden Fluten und brandet hinein in jede Häuslichkeit. Und ob die Frau auch nicht selbst hinausbraucht ins Leben, sie muss es verstehen schon um der Ihrigen willen, um derer willen, die ihr anvertraut sind, um sie für das Leben zu erziehen. Die Entwicklung des werdenden Geschlechts liegt in unserer Hand. Auf uns zum grossen Teil kommt es an, ob es seine Aufgabe recht erfassen, ob es in das komplizierte Getriebe der Zeit hineintreten wird mit der inneren Unabhängigkeit des Charakters oder ob es, abhängig in Leben und Gesinnung, den Fortschritt der Zeit aufhalten soll.

Kurz, unsere Aufgabe ist in der Gegenwart nicht nur der äusseren Not des Tages zu steuern, wie es die engen Verhältnisse früherer Zeiten verlangten, unsere Aufgabe ist heute vor allen Dingen, Menschen zu erziehen, die innerlich und äusserlich wohlgerüstet in den Kampf der Tage eintreten können. Darum genügt heute nicht, was früheren Jahrhunderten vielleicht genügen musste: blosse äussere Geschäftigkeit in Küche und Haus.

Und wie verhält sich unsere Zeit dem allen gegenüber?

In ängstlichem Missverstehen der neuen Aufgabe, die den Frauen gestellt ist, wehrt sie das Verlangen derer, die ihre Aufgabe richtig erfasst haben, nach Wissen ab und nimmt Partei für den tändelnden Dilettantismus, mit dem so viele Frauen leider schon gelernt haben, die Leere ihrer Tage auszufüllen. Es gilt für weiblich, mit einem sehr zweifelhaften Kunstkultus, mit überflüssigen Nadelarbeiten, mit Gesellschaftgehen und Toilettemachen seine Tage zu verbringen; für unweiblich, nach ernster Geistesarbeit zu verlangen. Man glaubt dadurch das Haus, die Familie gefährdet.

Mit Recht haben Frauen dem gegenüber betont, dass es die Frivolität der Müssigen ist, die keine höheren Interessen haben und ihre Zeit in gesellschaftlichen Genüssen vertändeln, welche das Haus zerstört, nicht die Sehnsucht nach echter Bildung; mit Recht betont, dass die Frau, welche wirklich erst einmal Interesse an den höheren Fragen des Lebens gewonnen hat, eifriger als je darauf bedacht ist, die Heiligkeit des Hauses zu wahren; mit Recht betont, dass die Frau, die gründlich zu denken und geistig zu arbeiten gelernt hat, auch am besten im stande ist, ihren Haushalt weise und systematisch zu ordnen; dass ihr erweiterter Gesichtskreis nicht so völlig von Kleinigkeiten verdunkelt werden kann, als der unserer sogenannten ,guten Hausfrauen’. Und dennoch erzieht man die Mädchen bei uns in unzähligen Fällen zu geschäftigem Müssiggang, der sie wenig geeignet macht, ihre Aufgabe als Mütter und Erzieherinnen später zu erfüllen. Sie leben, ohne für etwas zu leben; ohne bestimmte Zeiteinteilung, ohne Zweck, ohne Nutzen; kann man da erwarten, dass sie plötzlich beim Eintritt in die Ehe durch Instinkt den Eifer, den Fleiss, die Übersicht und die Verfügungs Fähigkeit erlangen werden, deren die Hausfrau so dringend bedarf und von deren Vorhandensein oft das Wohl und Wehe der ganzen Familie abhängt? Sollte nicht der Mangel an all diesen Eigenschaften, über den so häufig geklagt wird, zusammenhängen mit dem Mangel einer straffen geistigen Disziplin bei unseren Mädchen?

Aber gottlob! manche, die besseren unter ihnen, verlangen selbst danach. Für manche ist die Erkenntnis der Zweck- und Inhaltlosigkeit ihres Lebens der erste Schritt zu dem Entschluss, ihrem Leben einen Inhalt zu schaffen.

Sie gehen mit Ernst daran, zunächst aus sich selbst etwas zu machen. Aber auf Schritt und Tritt stossen sie auf Hindernisse; überall fehlen ihnen die Hilfswissenschaften, die dem Manne die Schule schon gegeben; sie sind ausser stande, ein wissenschaftliches Buch mit Kritik zu lesen. Diejenigen, die gar nicht wünschen, dass sie dazu im stande seien, machen sich wohl die Tragweite dieser Zustände nicht klar. Für die Frau, die nur Spielzeug sein soll, liegt allerdings keine Gefahr vor; wohl aber für die Frau, die erziehen soll, für die Kinder, die ihr anvertraut werden. Gehört sie den geistig leitenden, den sogenannten gebildeten Ständen an, so hört sie täglich um sich her Probleme erörtern, zu denen ihr der Schlüssel fehlt. Argumenten, die der Mann mit Leichtigkeit widerlegt, weil man ihn logisch denken gelehrt hat, steht sie hilflos gegenüber. So wird ihre Weltanschauung bestimmt durch Personen und Bücher, die der Zufall ihr entgegenwirft, und die Erfahrung lehrt, dass die Halbgebildete mit besonderer Vorliebe die Zersetzungsprodukte der modernen Literatur in sich aufnimmt, deren Skepsis ihr imponiert. Wie völlig unfähig macht die Gährung all der halbverdauten Lesestoffe, die sie in sich aufnehmen, solche Frauen zum Erziehen! Wie weit sind sieentfernt von der inneren Ruhe, zu der Pestalozzi den Menschen gebildet haben will! Diese Ruhe ist, wie schon der Ausdruck verrät, die Ruhe der Bildung, nicht die der Unwissenheit. Diese Ruhe ist ganz besonders der gebildeten Frau eigen, weil der Instinkt ihrer Natur, der dem Harmonischen zuneigt, nun durch das klare Urteil gestützt wird, das die Widersprüche und Unklarheiten moderner Skepsis durchschaut. Aber wie schwer und spät ringt sie alle diese Widersprüche und Unklarheiten nieder, wenn sie, wie wir alle, lediglich auf den Weg der Autodidaxie verwiesen ist!

Welche Mühe auf diesem Wege, welche Enttäuschungen, welche geistige Not! Diese geistige Not nachzuempfinden vermag niemand, der nicht unseres Geschlechts ist. Wemsie aber einmal selbst ans Herz gegriffen, der setzt sein Leben daran, um sie von andern abzuwehren!”

 

 

Quelle: Rede zur Eröffnung der Realkurse für Frauen, gehalten am 10. Okt. 1889 von Helene Lange. Berlin 1889.